Um Stills Faszienkonzepte in die moderne osteopathische Praxis einzubinden, wird in der vorliegenden Forschungsarbeit den folgenden drei Fragen nachgegangen:
– Wie entwickelte Still seine Faszienkonzepten und wie sehen sie aus?
– Wie werden diese Konzepte, insbesondere die philosophischen und spirituellen, von erfahrenen Osteopathen verstanden und in der manipulativen Praxis angewendet?
– Weichen heutige Faszienkonzepte wesentlich von Stills Original-Konzepten ab? Was bedeutet das für die Osteopathie?
Um dies zu beantworten, wurden literatur- und interviewgestützte Untersuchungen durchgeführt. Ziel der literaturgestützten Forschung war es, herauszufinden, wie Still seine Faszienkonzepte entwickelt hat und worin sie bestanden. Im Rahmen der interviewgestützten Forschung veranlasste eine Reihe offen gestellter Fragen eine Gruppe erfahrener, manipulativ arbeitender osteopathischer Ärzte und Osteopathen, ihre Vertrautheit mit Still und dessen Werk, ihre eigenen Faszienkonzepte sowie ihre Auffassungen von Stills Faszienkonzepten darzulegen. Beide Forschungsansätze wurden kombiniert, um ein besseres Verständnis von Stills Faszienkonzepten zu erreichen und zu erfahren, wie diese Konzepte in der modernen Osteopathie verstanden und angewendet werden.
Die Studie umfasst fünf Kapitel. Kapitel 1, Methodologie, skizziert die Schritte zur Entwicklung des in der vorliegenden Arbeit angewandten qualitativen Forschungsansatzes und beschreibt die speziellen Verfahren zur Behandlung der Forschungsfragen. Kapitel 2, Still verstehen, enthält eine kurze Biografie, deren Schwerpunkte auf Stills Lektüre, seinem Schreibstil und beeinflussenden Faktoren liegen, und stellt Vermutungen über Stills medizinische, philosophische und religiöse Überzeugungen an. In Kapitel 3, Über die Faszien, wird versucht, herauszufinden, was Still unter dem Begriff Faszien verstand, wie seine Faszienkonzepte aussahen und was sie bedeuteten. Darüber hinaus stellt dieses Kapitel Stills Ansätze beim Einschätzen und Behandeln von Faszien und Membranen vor, verfolgt die Geschichte des Begriffs Faszien und untersucht die Rolle der Faszien in anderen zu Stills Zeit bekannten mechanotherapeutischen Methoden. Es beleuchtet Stills Umgang mit den Faszien vor dem Hintergrund seiner medizinischen Ausbildung und seines Pionierlebens und führt die Gewebetypen auf, die Still in den Begriff Faszien einschloss. Schließlich wird eine repräsentative Auswahl seiner Äußerungen zum Thema Faszien interpretiert. Die Kapitel 2und 3befassen sich also mit der ersten Forschungsfrage: Wie entwickelte Still seine Faszienkonzepte und wie sahen sie aus?
Mit der zweiten Frage – Wie werden Stills Faszienkonzepte, insbesondere die philosophischen und spirituellen, von erfahrenen Osteopathen verstanden und in der manipulativen Praxis umgesetzt?– beschäftigt sich Kapitel 4, Interviews mit erfahrenen Osteopathen, das die Antworten von 37 erfahrenen Osteopathen und osteopathischen Ärzten auf 20 Fragen vorstellt, die schwerpunktmäßig auf das Faszienverständnis der Befragten abzielten sowie auf deren Meinung zu dem verborgenen Sinn in Stills Äußerungen über die Faszien.
Kapitel 5, Stills Faszienkonzepte und die moderne osteopathische Praxis, vergleicht schließlich die im Rahmen des literaturgestützten Forschungsansatzes erarbeitete Interpretation von Stills Faszienkonzepten mit den bei der interviewgestützten Untersuchung eingeholten Antworten und dreht sich somit um die dritte und letzte Forschungsfrage: Weichen heutige Faszienkonzepte wesentlich von Stills Original-Konzepten ab? Was bedeutet dies für die Osteopathie?Die dazu interviewten Osteopathen besaßen praktische Erfahrung in Manipulativ-Techniken und hatten Gelegenheit, diese Techniken sowie die osteopathische Philosophie von Kollegen zu erlernen, die nur eine oder zwei Generationen von A. T. Still entfernt gewesen waren. Das Kapitel macht deutlich, wo Stills Faszienkonzepte (so wie die Autorin der vorliegenden Studie sie aufgrund eingehender literaturgestützter Forschung interpretiert) und die Konzepte der Befragten konvergieren oder divergieren, diskutiert die Bedeutung der Untersuchungsergebnisse, erörtert, inwiefern sie die gegenwärtige Osteopathie beeinflussen, und gibt einige Anregungen für die Zukunft.
„Die Faszien kommen überall im Menschen vor und gleichen sich in allen Bereichen. Vor der Welt tut sich das größte Problem auf, der angenehmste Gedanke. Dem Philospohen erscheint es einleuchtend, absolut, dass er den ‚materiellen Mensch‘ und den Aufenthaltsort seines spirituellen Wesens vor sich hat. Sie[die Faszien] sind das Haus Gottes, die Wohnstätte des Unendlichen – soweit es den Menschen betrifft.“ 20
Dieses Still-Zitat wirft eine Reihe von Fragen auf: Teilt der osteopathische Berufsstand heute immer noch Stills Anschauungen in Bezug auf die Wichtigkeit der Faszien? Was bedeutete diese Äußerung für Still selbst? Wurde das größte Problem gelöst? Ist der angenehmste Gedanke jenen zugänglich, die das größte Problem lösen? Was meinte Still mit dem „materiellen Menschen“ und jenem spirituellen Wesen? Verstehen die Osteopathen von heute Stills Äußerungen? Und schließlich: Liefern Stills Ideen und Konzepte ein Jahrhundert, nachdem sie entworfen worden sind, immer noch eine Grundlage für das Praktizieren von Osteopathie?
Dieses Kapitel skizziert die methodischen Schritte beim Entwerfen, Gliedern, Gestalten und Schreiben der vorliegenden Studie. Die in dieser Arbeit angewendete Methode der qualitativen historischen Forschung erlaubt laut Bailey 1 „ eine ganzheitliche Beschreibung und Analyse eines bestimmten Phänomens“ – in unserem Fall also eine qualitative Untersuchung der Faszienkonzepte von Andrew Taylor Still.
Historische Forschung wurde hier verstanden als „systematische Zusammenstellung von Daten und kritische Darstellung, Bewertung und Interpretation von Fakten, die auf Personen, Ereignisse und Begebenheiten der Vergangenheit bezogen sind“. 2Im Mittelpunkt der Forschungsarbeit standen drei Fragen:
Wie entwickelte Still seine Faszienkonzepte und wie sahen sie aus?
Wie werden diese Konzepte, insbesondere die philosophischen und spirituellen, von erfahrenen Osteopathen verstanden und in der manipulativen Praxis angewendet?
Weichen heutige Faszienkonzepte wesentlich von Stills Konzepten ab und was bedeutet dies für die Osteopathie?
Diesen Fragen wurde mithilfe zweier Methoden – der literatur- und der interviewgestützten Forschung – nachgegangen.
Zur Untersuchung der ersten Frage wurde unter Einbeziehung veröffentlichten und unveröffentlichten Materials (Bücher, Aufsätze, Briefe, Interviews, Websites) literaturgestützte Forschung in zwei Schritten betrieben: Schritt eins beschäftigt sich mit Stills Leben aus historischer Sicht, betrachtet die Geistesströmungen im 19. Jahrhundert, die ihn beeinflusst haben könnten, und entwirft schließlich ein Bild von Stills Wesen. Schritt zwei verfolgt in Stills Schriften sämtliche Stellen, die sich auf „Faszien“ beziehen, beginnend mit der Prägung dieses Begriffs bis hin zu den um 1900 veröffentlichten Äußerungen von Still zum Thema Faszien.
Die interviewgestützte Forschung diente dazu, von erfahrenen Osteopathen und osteopathischen Ärzten deren Ansichten über frühere und heutige Faszienkonzepte einzuholen. Dazu wurde ein unstrukturierter Interviewentwurf 3verwendet, der es erlaubte, die Informationen (in diesem Fall also die Faszienkonzepte heutiger Osteopathen sowie deren Interpretationen von Stills Faszienkonzepten) zu erfassen und eingehend zu analysieren. Als Abschluss der Studie wurden die erfassten Informationen in Erzählform wiedergegeben, um so die Fragen eins und zwei zu beantworten. Die auf dieser Grundlage aufbauende Beantwortung von Frage drei wurde zu einer Mischung und Synthese der Antworten zu eins und zwei, was eine Auseinandersetzung mit Stills Faszien-Definitionen einerseits und den aus den Angaben der Befragten ersichtlichen Anschauungen heutiger Osteopathen andererseits ermöglicht.
Читать дальше