Die literaturgestützte Forschung liefert eine Skizze von Stills Leben, um sein Wesen zu erfassen und die Einflüsse aufzuzeigen, die seinen Charakter und seinen Stil formten. Zu diesen Einflüssen gehörten seine Familie, die Lebensweise der Pioniere, Lektüre, der amerikanische Bürgerkrieg, die spiritistische Bewegung im Amerika des 19. Jahrhunderts sowie Freundschaften, die ihm halfen, sein Denken und seine Weltsicht auszubilden. Es wurde auch untersucht, inwiefern die Geschichte des Begriffs Faszien und die verschiedenen, zu Stills Zeit populären mechanischen Therapien seine Faszienkonzepte beeinflusst haben. Die verwendete Textbasis umfasst alle bekannten und veröffentlichten Schriften von Still, seine relevanten nichtveröffentlichten Texte sowie die damalige medizinische Literatur. Auf dieser Basis werden Stills Faszienkonzepte vor dem Hintergrund der Philosophien und intellektuellen Strömungen seiner Zeit sorgfältig identifiziert und definiert.
Für die interviewgestützte Forschung wurden 37 Osteopathen und osteopathische Ärzte verschiedener Nationalität ausgewählt, die jeweils eine mindestens 20-jährige osteopathische Praxis vorzuweisen hatten und in den Interviews ihre Ansichten über Still, über die Faszien und über Stills Faszienkonzepte darlegen sollten. Bei der Analyse und Synthese dieser Interviews ergab sich ein beachtlicher Unterschied zwischen Stills Faszienkonzepten und denen der Befragten.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen ließ sich ein allgemeines Nichtübereinstimmen in Bezug auf die getreue Fortführung von Stills Faszienkonzepten feststellen. Die Autorin kam deshalb zu der Überzeugung, dass der osteopathische Berufsstand aus einem erneuerten Verständnis Stills und seiner Philosophie Gewinn ziehen würde, besonders im Bereich Faszien.
„Wer die Osteopathie verstehen will, muss Andrew Taylor Stills Werk verstehen und in diesem Zusammenhang auch etwas über die unmittelbaren Vorgänger dieses Mannes wissen. Wie sah die medizinische Welt aus, in der sich Stills Augen öffneten und in die sie mit der schärfsten Kritik der Geschichte blickten?“ 1
Worum es in der vorliegenden Studie geht, ist ein umfassendes und kritisches Untersuchen von Stills Faszienkonzepten, die wir zu diesem Zweck in physische, philosophische und spirituelle Konzepte unterteilen. Eine derartige Arbeit gibt es unter den zur Osteopathie veröffentlichten Werken bislang nicht.
Kleinere Artikel zu Stills physischen Faszienkonzepten enthält die noch im Aufbau befindliche Datenbank Ostmed (Ostmed®, The Osteopathic Literature Database, 2003). Einige Osteopathen oder osteopathische Ärzte (in der Folge stets einheitlich „Osteopathen“ genannt), die über Stills Faszienkonzepte schrieben – im Einzelnen sind das: Truhlar, Arbuckle, Kerr, McConnell und gelegentlich sogar Magoun senior –, zitierten in ihren Texten zwar Stills Gedanken zum Thema Faszien, unternahmen aber kaum je den Versuch, deren Bedeutung zu interpretieren.
Zu den prominentesten Osteopathen, die sich zu Stills Faszienkonzepten schriftlich geäußert haben, gehören Arthur Becker, Fredrick Becker, Roland Becker und Angus Cathie. Harold I. Magoun senior DO, stellte in seinem berühmten Abhandlung über Stills physische Faszienkonzepte fest, dass Still damals das Faszienproblem sogar besser verstanden habe als einige Spitzenleute in der heutigen Forschung. 2Weniger bekannt, obgleich einer der bedeutendsten Unterstützer von Still, ist Charles H. Kauffmann DO, der in den 1940er- und den frühen 1950er-Jahren ein Dutzend Artikel zu Stills Faszienkonzepten schrieb. Kauffmann besaß Zugang zu Stills seltenem dritten Buch The Philosophy and Mechanical Principles of Osteopathy.
Keinerlei osteopathische Literatur liegt zu Stills philosophischen und spirituellen Faszienkonzepten vor. William Garner Sutherland äußerte zu Stills Sicht des Lebensprinzips,3 das dieser im Kontext der Faszien erörtert hat: „Dr. Still gab sein Bestes, um uns in das Phänomen einzuführen. Doch wir waren dafür nicht aufnahmefähig“4. Und auch Rollin E. Becker DO zitierte Sutherland in diesem Sinne: „Ich habe oft darauf hingewiesen, dass wir in der Osteopathie etwas verloren haben, das Still mitzuteilen versuchte, und zwar das Spirituelle, das er in die Wissenschaft der Osteopathie einschließen wollte“.5
Einst wurden Stills Faszienkonzepte als wichtig betrachtet. Das Publikationskomitee der Academy of Applied Osteopathy, dem damals Dr. Alan R. Becker, Dr. Kenneth E. Little, Dr. George W. Northup. Dr. Ralph W. Rice, Dr. Charles K. Smith und Dr. Thomas L. Northup angehörten, unternahm 1946 den Versuch, Stills Werk speziell auf dem Gebiet Faszien wieder in den Lehrplan für die osteopathische Ausbildung zu integrieren. Um die Mitglieder der Academy of Applied Osteopathy davon zu überzeugen, dass es notwendig sei „ eine klare Auffassung von Dr. Stills Geisteshaltung in den Gründerjahren“ zu bekommen, legte man seinerzeit auch Stills zweites Buch Philosophy of Osteopathy neu auf, stellte es allen Mitgliedern zur Verfügung und verwies sie, was das Erlangen dieser „klaren Auffassung“ betraf, vor allem auf das in jenem Werk enthaltene Kapitel X, Die Faszien.
1952 empfahl Thomas L. Northup D.O., man solle „das Faszienkapitel in Dr. Stills Buch über die Prinzipien der Osteopathie nicht nur sorgfältig lesen, sondern dessen Inhalt Absatz für Absatz, Satz für Satz bedächtig studieren.“ 6Danach vergingen 30 Jahre, bis der erste Versuch unternommen wurde, die Wurzeln von Stills Theorie und Philosophie der Osteopathie freizulegen. Obgleich er selbst kein Osteopath war, nahm der Soziologe und Forscher Norman Gevitz als Student an der Universität von Chicago eine absatz- und satzweise, gelegentlich sogar wortweise Durchsicht von Stills Werk vor, um u. a. herauszufinden, ob und gegebenenfalls wie die Geistesströmungen des ländlichen Amerika in der Mitte des 19. Jahrhunderts Stills Sichtweisen und Philosophien beeinflusst haben. Als Ergebnis dieses Prozesses konnte er eine Reihe wahrscheinlicher Einflüsse nennen, zu denen auch Stills Beziehung zum Spiritismus gehörte.
„Ich fand u. a. heraus, dass er [Still] den Ausdruck Banner der Osteopathie verwendet hat. Er sagte: ‚Wir wollen das Banner der Osteopathie weben.‘ Da stieß ich zufällig auf die Zeitschrift Banner of Light …, Ich erwog, ob das Banner der Osteopathie auf jenes Banner of Light bezogen sein könnte, und ging deshalb diese Zeitschrift, die ich in der großen Sammlung der Universitätsbibliothek von Michigan einsehen konnte, seitenweise durch, bis ich irgendwann einen Leserbrief entdeckte, der von Still mit unterschrieben war.“ 7
Für Gevitz war das der entscheidene Beweis, denn Still selbst hat nichts über seine Einflüsse mitgeteilt, zitierte nur wenige Quellen und zog es dagegen vor, „Gott und die Erfahrung“ 8bzw. die „Gesetze der Natur“ 9zu zitieren.
Den Empfehlungen der Academy of Applied Osteopathy aus dem Jahr 1946 folgend beschäftigt sich die vorliegende Studie mit dem Kapitel Faszien in Stills Werk. Zunächst jedoch wird auf die Arbeiten von Gevitz und der Historikerin und jüngsten Still-Biografin Carol Trowbridge (1991) eingegangen. Das ist notwendig, weil man, um Stills Faszienkonzepte zu verstehen, seinen einzigartigen Charakter, der sich in seiner Ausdrucksweise und Wortwahl widerspiegelt, vor dem Hintergrund zeitgenössischer Einflüsse und Strömungen betrachten muss.
„Er [Still] war ein komplexer Mensch. Seine Schriften sind oft schwer zu verstehen. Sie sind in der Sprache seiner Zeit geschrieben und enthalten viele Allegorien.“ 10
„Sein symbolischer und allegorischer Schreibstil erlaubt es nur einem geneigten Leser, die Bedeutung seiner Sprache und den darunterliegenden eigentlichen Sinn zu erfassen. Und es gibt einen Sinn, auch wenn Andersdenkende diese Werke nicht verstehen können.“ 11
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