Die Umstehenden machten finstere Gesichter. Katzmann spürte, dass die Stimmung gegen ihn war. Die Dompteuse schien nicht sonderlich viele Fürsprecher zu haben. «Verschwinden wir von hier!», schlug er ihr vor und deutete zur Tür.
«Aber ich muss meine Freundin finden!»
«Sie ist nicht hier, das sehen Sie doch. Oder wollen Sie noch mehr Gäste nach ihr fragen?»
Die Fremde zögerte kurz und schüttelte dann den Kopf. Katzmann nahm ihre Hand und schob sich voran durch die Menge. Er bahnte ihr einen Weg, und das war auch gut so, denn die Männer wichen nur widerstrebend zurück und murmelten verhaltene Drohungen.
Erleichtert trat der Reporter kurz darauf auf die Straße. Auf eine weitere Prügelei hatte er nun wirklich keine Lust. Sein Kiefer hämmerte noch von dem Hieb, den er hatte einstecken müssen.
Davon würde er vermutlich noch eine ganze Weile etwas haben. Unter dem Vordach des Eingangs blieb er stehen und wandte sich zu der Fremden um. Sie war blass und hielt ihren Mantel angespannt vor der Brust zusammen. «Alles in Ordnung?», forschte er. «Geht es Ihnen gut?»
«Ja, danke», versetzte sie leise. «Sie haben mir da drinnen geholfen. Warum eigentlich?»
«Wie ich schon sagte: Ich mag es nicht, wenn eine Frau bedrängt wird.»
«Das war wirklich nett von Ihnen.»
«Nicht der Rede wert.»
«Aber Ihr Kiefer …»
«Der hält noch ganz andere Sachen aus.» Katzmann deutete die Straße hinunter. «Kommen Sie, ich bringe Sie zurück zum Zirkus. Nicht, dass es den Kerlen da drinnen noch einfällt, Ihnen zu folgen.»
«Ich kann noch nicht zurück, ich muss meine Freundin finden. Nelly ist verschwunden. Sie hätte heute Abend in der Vorstellung auftreten sollen, aber sie ist nicht da gewesen.»
Katzmann dämmerte es. «Ihre Freundin … ist das die Seiltänzerin?»
«Ganz recht.» Sie nickte lebhaft. «Waren Sie auch im Zirkus?»
«Ja, ich habe mir die Vorstellung angesehen.»
Die Fremde zog ihren Kragen noch ein Stück höher und sah sich verzweifelt um. «Nelly hat noch nie einen Auftritt versäumt. Dass sie heute nicht da war, bedeutet bestimmt nichts Gutes. Ihr muss etwas zugestoßen sein.»
«Warum gehen Sie gleich vom Schlimmsten aus?»
«Weil sie auch nicht in ihrem Wohnwagen war. Ich habe den ganzen Zirkus nach ihr abgesucht – vergeblich.»
«Womöglich hatte sie eine Verabredung und hat sich nur verspätet.»
«Ganz sicher nicht, das wüsste ich. Nelly und ich sind zusammen aufgewachsen. Wir sind wie Schwestern. Ich wüsste es, wenn sie sich mit jemandem getroffen hätte.» Tränen blinkten in den grünen Augen der Dompteuse, und ihr Blick war voller Angst.
«Nelly hat noch nie eine Vorstellung versäumt. Nicht einmal, als sie die Grippe und vierzig Grad Fieber hatte!»
«Sie glauben also, ihr ist etwas zugestoßen?»
«Ja, das befürchte ich.» Die Dompteuse senkte den Blick. Katzmann spürte, dass ihr noch mehr zu schaffen machte.
Seine Arbeit als Journalist hatte seine Menschenkenntnis geschult. Er ahnte, dass ihm die Fremde nicht alles sagte, aber das konnte er ihr auch kaum übelnehmen, immerhin kannte sie ihn kaum. «Wer könnte denn etwas vom Verschwinden Ihrer Freundin wissen?»
«Ich weiß es nicht. Ihre Mutter vielleicht.»
Das Gaslicht der Straßenlaterne flackerte auf dem Gesicht der Fremden. Der Wind trieb raschelndes Herbstlaub über die Straße. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war schneidend kalt.
«Ich würde Ihnen gern helfen. Mein Name ist übrigens Konrad Katzmann», besann sich der Reporter plötzlich auf seine Manieren.
«Selina Reuther», stellte sich die Dompteuse vor. «Meinem Onkel gehört der Zirkus.»
«Ihrem Onkel?» Katzmann dachte an die beiden Streithähne, die er vor wenigen Stunden im Zirkus gesehen hatte. «Dann ist Ihr Vater das leichtgewichtige Ebenbild des Zirkusdirektors, nicht wahr?»
«Ja, das stimmt.»
«Hat er auch eine Nummer?»
«Nein, jetzt nicht mehr. Früher hat er mit den Elefanten seines Vaters gearbeitet, aber sie sind gestorben.»
«An Altersschwäche?»
«Nein, sie wurden vergiftet. Manche glauben, dass mein Onkel dahintersteckt. Dass er die Elefanten aus Neid umgebracht hat, weil mein Vater und seine Elefanten die Lieblinge des Publikums waren. Aber das ist Unsinn, wenn Sie mich fragen. Mein Onkel würde niemals etwas tun, das dem Zirkus schadet. Der Zirkus ist sein Leben.»
«Dann wurde nie geklärt, wer die Elefanten vergiftet hat?»
«Nein, niemals.» Selina schüttelte die roten Locken. «Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich?»
«Vielleicht, weil ich Ihnen helfen möchte, Ihre Freundin zu finden.» Katzmann dachte nach. «Warum haben Sie eigentlich ausgerechnet in einer Bar nach ihr gesucht?»
«Irgendwo musste ich ja anfangen. Und sie liegt nahe.»
«Ich verstehe. Und was hatten die Männer in der Bar gegen Sie?»
«Nichts Persönliches.» Selina zuckte die Achseln. «Im Zirkus leben Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zusammen. Wir haben Russen, Franzosen, Spanier und sogar Schweden im Programm. Das gefällt manchen nicht.»
«Sie meinen, Sie werden angefeindet, weil Sie mit Menschen anderer Nationen zusammenarbeiten?»
«Ja. Der Zirkus ist eine eigene Welt für sich. Wie ein kleiner Staat im Staat. Das ist vielen nicht geheuer. Und wir Menschen hassen häufig das, was wir nicht kennen. So ist das nun mal.»
Katzmann legte die Stirn in Falten. Darüber sollte ich einmal schreiben, nahm er sich vor. Es ging doch nicht, dass die Zirkusleute verurteilt wurden, nur weil sie anders waren! Außerdem konnte er über die vermisste Frau schreiben. Das wären gleich zwei Themen. «Ich bin Journalist, Selina, und ich würde gern über Ihren Zirkus schreiben.»
«Warum? Wollen Sie in alten Wunden stochern?»
«Nein, aber ein Artikel könnte helfen, mehr Verständnis zu wecken für Ihre Art zu leben.»
Selina winkte ab. «Das würde Ihnen nicht gelingen. Wir sind Weltenwanderer, die nirgendwo hingehören und denen niemand vertraut. So ist es, und so wird es bleiben.»
«Wäre es nicht den Versuch wert, etwas zu ändern?»
«Vielleicht. Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los.»
«Warten Sie», hielt Katzmann sie auf. «Kann ich morgen zu Ihnen kommen und Ihnen ein paar Fragen stellen?»
Selina blickte zu ihm auf, und ein nachdenklicher Ausdruck vertrieb sekundenlang den Kummer aus ihrem Blick. «Einverstanden», erwiderte sie schließlich. «Sagen Sie dem Wachmann am Eingang, dass Selina Sie erwartet. Dann lässt er Sie durch. Aber seien Sie vorsichtig, wenn Sie zu uns kommen. Es gefällt meinem Onkel nicht, wenn sich Fremde im Zirkus umschauen.»
«Warum? Hat er etwas zu verbergen?»
«Es ist sein Reich. Das genügt ihm.»
«Was kann er mir schon tun? Schlimmstenfalls wirft er mich raus.»
«Nein», versetzte Selina leise, «das wäre nicht das Schlimmste. Sie haben ja keine Ahnung, wozu er fähig ist …» Damit wirbelte sie herum und verschwand in der Dunkelheit.
KATZMANN war nicht der Typ, der tatenlos herumsaß. Deshalb wollte er sich am nächsten Morgen, während es im Zirkus höchstwahrscheinlich noch ruhig und verschlafen zuging, im Wagen der vermissten Seiltänzerin umschauen. Er hatte einige Tage frei, aber das bedeutete nicht, dass er einer guten Geschichte aus dem Weg ging, wenn er eine fand. Und so rief er seinen Chef an und kündigte zwei Artikel über den Circus Rosario an. Mit der Option auf weitere, sollte es das Thema hergeben.
«Ein Zirkus in Chemnitz?», entgegnete Leistner skeptisch.
«Was hat das mit uns zu tun? Unsere Leser wollen Neuigkeiten aus Leipzig. Vergiss den Zirkus, dieses Thema passt nicht zu uns.»
«Aber Eugen, der Circus Rosario macht als Nächstes Station in Leipzig. Damit ist er auch für die LVZ interessant.»
Читать дальше