Estellas Gedanken schweiften ab, Heckler übernahm derweil die Erklärungen. Sie stellte sich den Moment vor, wo sie und nur sie ganz allein ihre Entdeckung verkünden würde. Die Welt würde aufschreien und ihr zujubeln und die bedeutendsten Politiker würden ihr die Hände schütteln. Bald war es so weit! Bald würden sie die Führung auf dem weltweiten Energiemarkt übernehmen.
Der beißende Geruch schlug ihr erneut entgegen und riss sie aus ihren Gedanken. Was stimmte jetzt wieder nicht? Ihr Blick richtete sich gen Osten, von wo aus der Wind den Geruch zu ihnen herübertrug. Ein zartes Grau trübte den ansonsten strahlend blauen Himmel. Was ging dort vor sich?
Es dauerte einen Augenblick, ehe Estella bewusst wurde, worum es sich bei dem Grau handelte: Rauch, dünner, in der heißen Wüstenluft flimmernder Rauch! Und wo Rauch war, war auch Feuer. Es brannte!
»Nein, nicht auch noch das!«, flüsterte Estella ernüchtert, und in diesem Moment drehten sich auch die Gäste herum. Der Rauch verdichtete sich, Funken stoben in kleinen Fontänen aus den betroffenen PECS-Modulen. Dann überschlugen sich die Ereignisse!
Als wäre ihr entsetztes Flüstern ein Katalysator gewesen, sprühte es nun auch aus den anderen Modulen, und dicker schwarzer Qualm quoll daraus hervor. Er wehte zu ihnen herüber, beißend und unheilvoll. Die Gäste begannen zu husten und zu würgen und bedeckten in Eile ihre Münder. Heckler stöhnte und starrte entsetzt auf die flammenschlagenden Module. Mit der Hand stützte er sich auf einen Verteilerkasten, den er soeben hatte vorführen wollen. Ein schwerer Fehler …!
Estellas Verstand gewann wieder die Oberhand. Sie löste sich von der schrecklichen Szenerie und rannte los. Der Verteilerkasten war mit den Modulen verbunden, und wenn diese aus einem unerkenntlichen Grund überlasteten, wanderte die angestaute Spannung geradewegs zu ihm. Die Sicherungen würden anspringen, aber Stromstöße waren dennoch nicht auszuschließen.
Sie war nur noch wenige Schritte von Heckler entfernt, als es passierte. Mit einem ohrenbetäubenden Zischen explodierte der Kasten, und Hecklers Körper begann augenblicklich wild zu zucken. Eingehüllt in eine Wolke sprühender elektrischer Funken geriet sein Haar in Brand. Wie paralysiert sah die Gruppe zu, wie er bei lebendigem Leib verbrannte. Es war furchtbar! Er schien schreien zu wollen, doch seine Muskulatur war längst so verkrampft, dass kein Wort mehr über seine Lippen kam. Dann kippte er, einer brennenden Statue gleich, vornüber und schlug auf dem Boden auf.
Die Gäste schrien panisch. Aus einem auf den ersten Blick harmlosen Schwelbrand war eine lebensbedrohliche Gefahr geworden. Estella wollte ebenfalls kreischen, ihrer Panik Ausdruck verleihen, entsann sich aber ihrer Verantwortung. Mit eisernem Willen gelang es ihr, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Es lag nun an ihr, die Gäste in Sicherheit zu bringen.
Thalia Morgan versuchte, an ihr vorbei zurück zum Gebäude zu laufen, doch Estella setzte ihr nach und riss sie an der Schulter herum. Der Weg, den sie gekommen waren, wurde nun ebenfalls vom Feuer eingehüllt.
»Hören Sie mir jetzt alle zu!«, brüllte sie in Richtung der Gruppe und gestikulierte wild mit den Armen. »Wir werden das Gelände an einem der Wartungszugänge auf der Westseite verlassen!«
»Aber dann laufen wir mitten in die Wüste!«, brüllte Lennard Frank zurück.
»Bis zum Hotel ist es nicht weit. Wir müssen es versuchen, es ist unsere einzige Chance!«
Von einer kalten Wut getrieben, lief Estella den anderen voraus. Dieser Zwischenfall mochte das Aus für Hawkes Enterprises bedeuten, aber sie würde nicht zulassen, dass auch noch die Gäste zu Schaden kamen. Hoffentlich schlug der Brand keine konzentrischen Kreise. Dann säßen sie in der Falle, bevor sie den Wartungszugang erreichten. Doch noch deutete nichts darauf hin. Noch konnten sie es schaffen.
Eilig warf Estella einen Blick über ihre Schulter. Das halbe Feld stand mittlerweile in Flammen, und der Anblick trieb ihr Tränen der Verzweiflung in die Augen. Was auch immer für den Brand verantwortlich war, ob menschliches oder technisches Versagen, es gefährdete nicht nur die Zukunft des Unternehmens, sondern auch ihre ganz persönliche. Das Projekt, an dem sie auf dem Stützpunkt in Deutschland arbeitete, war ihre Erfindung und tausendmal wichtiger als jedes gottverdammte Sonnenkraftwerk in einem afrikanischen Schurkenstaat. Die Daten durften auf keinen Fall verlorengehen.
Sie zwang sich, wieder an die Gäste zu denken und trieb sie weiter voran. Das Knirschen und Krachen umstürzender PECS-Module kam immer näher.
Sie rannte nach links. »Hier entlang!«
Der Wartungszugang war nun in greifbarer Nähe. Nur zwei-, dreihundert Meter und sie hatten es geschafft. Die Gäste begannen bereits zu schwächeln, doch die Aussicht, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, ließ sie auch das letzte Stück der Strecke überwinden.
Hinter ihnen brach die Hölle los.
Ein markerschütterndes Donnern drang durch Shanes Ohren zu seinem schlafenden Gehirn vor. Die reale Lautstärke der akustischen Reize wurde durch den Restalkohol und einen Albtraum, den er noch immer durchlebte, unnatürlich verstärkt. Zu dem Donnern gesellten sich ein tiefes, Schmerzen bereitendes Brummen und ein nervtötendes Klingeln. Die einzelnen Geräusche verschmolzen zu einer Kakofonie des Grauens, und leuchtende Walküren auf gepanzerten Streitrössern sprengten in Shanes traumhafter Phantasie aus den Toren Walhallas. Die Donnerhufe der Apokalypse!
Schweißgebadet erwachte er und fand sich kerzengerade in seinem Bett wieder. Das Donnern wurde erträglicher, verschwand allerdings nicht. Bevor er auch nur die Augen aufschlagen konnte, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Das Klingeln waren Alarmsirenen, die er in seinem Albtraum auf groteske Weise interpretiert haben musste. Torkelnd, und mit Schwärze vor den Augen, sprang er aus dem Bett.
Er fand das Touchscreen für die Lichtkontrolle und regelte es hoch. Links oben an der Decke leuchtete bedrohlich eine rote Warnlampe. Was ging hier vor sich? Eine unterschwellige Panik, die ihn wie eine Schlingpflanze in den Würgegriff nahm, ergriff von ihm Besitz. Unwillkürlich musste er an die mysteriösen Virenangriffe und Systemschwierigkeiten denken, von denen ihm Fritzsch erzählt hatte. Eilig streifte er seinen Schlafanzug ab und schlüpfte in Jeans und ein schwarzes T-Shirt; beides hatte zusammengeknautscht auf dem Boden gelegen. Dreißig Sekunden später verließ er das Zimmer.
Der in Rot- und Goldtönen gehaltene Korridor lag verlassen, ja fast schon gespenstisch leer vor ihm. Unaufhörlich schrillten die Sirenen, und das rote Leuchten erinnerte ihn entfernt an einen alten U-Boot-Kriegsfilm, in dem soeben der erste Angriff erfolgt war. Der tonnenschwere Stahlkoloss müsste sich nun zur Seite neigen und zu sinken beginnen – das Hotel blieb jedoch glücklicherweise an Ort und Stelle.
Als er das Treppenhaus hinter sich gelassen hatte, änderte sich Shanes Stimmung abrupt. Dutzende Hotelangestellte rannten gehetzt durch die Gegend, telefonierten oder sprachen mit Technikern in blau-weißen Overalls. Ein Geruch, den er zuerst der Küche zugeschrieben hatte, stieg ihm in die Nase. Es roch brenzlig, sogar sehr brenzlig.
Die Techniker und Sicherheitskräfte versammelten sich am Durchgang zum Solarkontrollzentrum und starrten gebannt auf die schweren Stahlschotten. Was machten sie da? Warum öffnete niemand den Durchgang? Die Antwort erhielt er wenige Sekunden später, als sein Bewusstsein die Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang brachte.
Es war bereits später Vormittag, die Präsentation, von der ihm Estella noch gestern Abend vorgeschwärmt hatte, hatte er also verpasst, aber der Rest der Gruppe musste sich auf der anderen Seite der Stahlschotten befinden. Und der stechende Geruch in der Luft ließ keinen Zweifel daran, dass es brannte.
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