Michael lehnte sich mit dem kalten Seil in seinen verschwitzten Händen an die Wand und zählte die Glockenschläge der Kathedralen der Stadt.
Vier … fünf …
„Mein Schicksal ist nicht wie das der anderen.“
„Hier ist doch irgendetwas im Gange. Heraus damit.“ Paulson stellte die Laterne auf dem Sims des zur Stadt hin offenen Fensterbogens ab. „Für wen läutet diese Glocke?“
„Charlene.“ Im flackernden Licht der Laterne erwiderte Michael den Blick seines Freundes. „Aber nun bist du zur Geheimhaltung verpflichtet. Kein Wort, zu niemand.“
Paulson trat Michael gegenüber, so nahe, dass er ihn beinahe anrempelte, und riss ihm das feuchte, abgenutzte Seil aus den Händen. „Lady Charlene of Clounnaught?“ Sein Gesichtsausdruck, sein Tonfall, seine Haltung passten sich schlagartig dem Gebäude an – wurden eiskalt, hart wie Stein. „Willst du mich herausfordern?“
Die Luft vibrierte im hallenden Glockengeläut der Kathedralen der Stadt.
Sechs … sieben …
„Dich herausfordern? Was um alles in der Welt …?“ Michael bekam den Strang zu fassen und nutzte all seine Kraft, um ihn Paulsons Händen zu entwinden. Doch ohne Erfolg.
„Charlene und ich sollen einander versprochen werden. Das weißt du doch.“
„Ich weiß nichts Derartiges. Wenn deine Worte wahr sind, warum hat dein Vater dann noch nichts angekündigt? Warum seid ihr euch dann noch nicht versprochen? Ihr seid beide volljährig.“
„Alles zu seiner Zeit. Ich habe zuerst noch wirtschaftliche Angelegenheiten zu klären und meine Position in der Anwaltskanzlei meines Vaters zu bedenken. Aber wenn du diese Glocke läutest, um Lady Charlene zu heiraten, befinden wir uns im Krieg, Mann.“
„Lass die Schlacht beginnen.“ Michael rammte Paulson, bekam das Seil zu fassen, während das Läuten der Stadtglocken ihn und den Turm in der Kälte der Nacht durchdrang.
Acht … neun … zehn …
Paulson, der Sohn des Earl of Granite, hob seine Hand an Michaels Kehle. „Ich werde dich bezwingen. Fordere mich nicht heraus.“
Unfähig zu atmen, stampfte Michael ihm verzweifelt auf den Fuß. Der gab den Prinzen mit einem Schmerzensschrei frei.
„Fordere du mich nicht heraus. Sie hat mir so gut wie gesagt, dass ich die Glocke läuten soll, weil sie mich heiraten will.“
„Ha! Trotzdem wird ihr Vater das letzte Wort haben.“ Elf … zwölf.
Ein letztes Mal erklangen die Glocken der großen Kathedralen der Stadt; ihr Läuten schallte laut über die Palastanlage.
„Ein Prinz gegen einen Earl? Ich glaube, sie gehört so gut wie sicher mir.“ Michael stieß Paulson die Hand vor die Brust. „Tritt beiseite, während ich die Glocke läute.“
Er umklammerte das dicke Seil und zog daran, indem er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das der Sechshundert-Pfund-Glocke stemmte und sie dadurch in Bewegung setzte. „Für Lady Charlene, für Lady Charlene.“
Paulson schaute durch die Fensterbögen. „Die Palasttüren öffnen sich. Ich kann das Leuchten aus dem Ballsaal sehen.“
Michael konzentrierte sich darauf, die Glocke zu läuten, zog am Glockenstrang, ließ ihn durch die Hände gleiten, zog wieder, und das Seil flog immer höher.
Der einzelne Glockenton klang heller und lauter.
„Menschen verlassen den Ballsaal.“ Paulson schnappte sich sein Licht und strebte zur Treppe. „Überall auf dem Gelände tauchen Laternen auf. Sie kommen hierher, Mann.“
Endlich war die Glocke in vollem Schwung. Michael ließ das Seil los und folgte dem schwankenden Laternenlicht.
„Aus dem Weg, Paulson, ich muss zuerst unten ankommen.“
„Nun gut, dann betrachte ich das als Herausforderung.“ Paulson wandte sich um und schubste Michael, sodass der gegen die Steinmauer fiel. Seine Füße glitten auf den Stufen aus, und er rang darum, das Geländer zu fassen zu bekommen und sein Gleichgewicht wiederzufinden.
„Bleib stehen!“ Michael fand seine Balance und tastete sich die tückische Treppe hinunter, an deren Ende das Licht verblasste. „Ich weiß, was du vorhast, und es wird nicht funktionieren, das sage ich dir gleich. Ich habe diese Glocke geläutet.“
Seit hundert Jahren läuteten Prinzen und Adlige mit vor Liebe überströmendem Herzen die Glocke. Diese Nacht gehörte ihm. Seiner Erklärung. Für Lady Charlene. Das würde er sich nicht von seinem sogenannten besten Freund rauben lassen.
Michaels Herz raste, während er die Treppe hinabeilte, sich bei jedem schlüpfrigen Schritt fangen musste, doch als er um eine Biegung kam, traf ihn ein harter Schlag auf dem Kopf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht taumelte Michael gegen die Wand und versuchte mit aller Macht, sich aufrecht zu halten. „Paulson …“
„Muss ich mich wiederholen? Wir befinden uns im Krieg, Mick.“ Paulson beugte sich zu ihm vor. „Ich werde der Erste sein, der durch die Tür der Kapelle tritt …“
„Aus dem Weg!“ Ausatmend donnerte Michael seine Faust gegen Paulsons Unterkiefer. Der größere Mann krümmte sich und empfing den Schlag mit einem leisen Ächzen.
Doch es reichte. Michael schoss um ihn herum, fand aber keinen Halt auf dem glatten Stein. Er rutschte aus, fiel, ruderte mit den Armen …
Das Geländer … wenn er doch nur das Geländer erreichen könnte …
Seine Finger streiften das alte, ausgetrocknete Holz. Im Ausstrecken bekam Michael den Handlauf endlich zu fassen. Seine Hände fuhren über das Holz, Splitter bohrten sich in seine Haut. Als er zum Halten kam, holte er tief Luft und richtete sich auf.
„Paulson, wollen wir einen Pakt schließen?“ Michael suchte die tiefen Schatten hinter sich nach seinem Freund ab, während er erneut begann, die Treppe hinabzusteigen.
Doch der Stein betrog ihn ein weiteres Mal. Sein Stiefel glitt aus. Dann brachte ihn ein leichter Schubs von hinten noch mehr ins Taumeln, und er krachte seitlich in das kümmerliche Geländer. Unter seinem Gewicht knackte das Holz.
Das Geräusch berstenden Holzes füllte seine Ohren. Seine Brust dröhnte, als er kopfüber in das tiefe, schwarze Nichts des Glockenturms der Pembroke Chapel stürzte.
St. Simons Island, Georgia
November, Gegenwart
Wenn sie ihre Augen schloss, konnte sie so tun, als hätte sich im Rib Shack nichts verändert, seit Daddy gestorben war.
Nicht das Klirren und Klackern des Geschirrs, das Summen der Spülmaschine, das Brutzeln der Fritteuse, Bristol, die Kommandos durch die Durchreiche brüllte, und Catfish, der „Nobody Knows the Trouble I’ve Seen“ sang, während Mama, die Königin des Shacks, ihn ermahnte, aufzuhören, sonst würde er eine ganz andere Art „trouble“ zu spüren bekommen.
Catfish neigte einfach den Kopf und sang ein bisschen lauter.
Avery lachte über den Schlagabtausch und war sich dennoch der Leere sehr bewusst, die sich in ihrer Brust breitgemacht hatte, seitdem ihr Held diese Erde viel zu früh verlassen hatte.
Daddy war gerade sechzig gewesen, als sein Herz sagte, es hätte genug. Ohne ihn war nichts mehr wie vorher. Das Shack nicht, Zuhause nicht, Mama nicht und auch nicht das Leben. Für Avery waren es mehr als nur Worte, wenn sie sagte, sie vermisse ihn.
Sie vermisste ihn, wie er an der Fritteuse stand und Mama sagte, sie solle ihn in Ruhe lassen. Vermisste ihn an der Anrichte, wo er seine berühmte Grillsoße machte. Vermisste seine weisen Antworten auf ihre ängstlichen Fragen.
Schlimmer als die Tatsache, dass nichts mehr dasselbe war, war, dass alles sich verändert hatte. Selbst sie hatte sich verändert. Sie war sich ihrer selbst, ihrer Zukunft, nicht einmal mehr ihrer Gedanken sicher.
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