„Was war das denn? Wir sind gestrandet, aufgelaufen? Hier gibt es doch gar kein Land, oder sind wir …“ – und schon wieder drängte sich ihm der Gedanke an diese unheimliche, alte Geschichte auf.
Er konnte seinen Satz auch nicht vollenden, da unterbrach ihn auch schon Leif: „So weit sind wir nicht vom Kurs abgewichen. Hier gibt es doch eigentlich kein Land, das weiß ich genau!“
Djarfur richtete sich vollends auf und sah sich um: Nichts war zu erkennen, außer einem steinigen Strand und ringsherum wabernder Nebel. Er überlegte nicht lange und rief: „Leif komm, lass uns das Boot auf den Strand ziehen und den Sturm abwarten!“
„Wieso Sturm?“, brummte Djarfur jetzt überrascht, denn der Sturm hatte sich schlagartig gelegt. „Merkwürdig, so plötzlich, wie er gekommen war, war nun um sie herum Stille und nicht einmal das Auflaufen der Wellen am Ufer war zu hören.“
Djarfur schaute zu Leif. Der stand auch wie versteinert und schaute als ob er einen feuerspeienden Drachen gesehen hätte.
„Wo sind wir? Was ist das für ein Land?“, stöhnte Leif. „Djarfur, mir fallen da ganz plötzlich uralte Geschichten ein. Das hier gefällt mit überhaupt nicht, das ist ja unheimlich!“
„Mir auch nicht“, erwiderte Djarfur, „aber komm, lass uns erst das Boot sichern, dann werden wir die Gegend erkunden. Ich muss nach Saida und Einurd sehen. Sie müssen sich ja fürchterlich fühlen.“
Djarfur hob Saida aus dem Boot und Einurd sprang hinter ihm auf den Strand. Ihre großen, dunklen Augen, schauten ihn so voller Hoffnung an, dass er wieder einen dicken Kloß im Hals spürte, weil für ihn die Hoffnung nur noch ein dünnes Fädchen war.
Er wollte Saida, ein Stück vom Meer entfernt, an einer windgeschützten Stelle niederlegen und schaute sich nach einem geeigneten Platz um.
„Wenn nur dieser verdammte Nebel nicht wäre“, ging es ihm durch den Kopf.
Hinter ihm fluchte Leif fürchterlich: „Was ist das für ein verrücktes Land, das es hier doch gar nicht geben dürfte?“
Da spürte Djarfur, wie sich eine kleine, weiche Hand in seine Hand schob, und wie eine Welle von Zärtlichkeit durchfuhr es ihm: Einurd, sein Töchterchen. Djarfur machte noch einen Schritt, dann blieb er abrupt stehen und stutzte; der Nebel war schlagartig wieder weg, er war verflogen, so schnell? Das war wirklich verrückt. Er hielt inne und staunte, denn nicht weit voraus, entdeckte er eine kleine Hütte aus Feldsteinen, mit strohgedecktem Dach, aber nirgends ein Anzeichen dafür, dass hier Menschen wohnten.
Er eilte auf die Hütte zu und atmete erleichtert auf, als er vor ihr stand. Wenigstens hatten sie nun ein Dach über dem Kopf und konnten in Ruhe Kraft für ihre Weiterfahrt schöpfen. Sie würden ein Feuer machen, etwas Warmes trinken und endlich einmal richtig schlafen können. Djarfur gab Einurd mit dem Kopf ein Zeichen und deutet auf die Tür. Einurd verstand und öffnete sie. Beide verhielten einen Augenblick, dann rief Djarfur einen Gruß in das Halbdunkel der Behausung. Als keine Antwort kam, ging er hinein und sah sich langsam um. Im Dämmerlicht, das durch die Türöffnung den Raum nur spärlich erhellte, sah er, dass die Hütte schon lange nicht mehr bewohnt war. Alles sah sehr alt aus und war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Da zog Einurd an seinem Ärmel und deutete auf eine Ecke, in der reichlich Stroh aufgeschichtet war.
„Ein Lagerplatz“, ging es Djarfur durch den Kopf und er legte Saida in ihren Fellen dort ab. Sorgfältig bettete er ihren Kopf etwas höher und schob das Fell vor ihrem Gesicht zur Seite.
Verwundert sah er, dass Saida die Augen offen hatte und ihn aufmerksam anschaute. Djarfur kniete neben ihr nieder und musste all seine Kraft zusammennehmen, damit der Schmerz, über ihre Krankheit, ihn nicht zusammenbrechen ließ. Ihre Liebe war für ihn das Leben und der Blick aus ihren wunderschönen, dunklen Augen durchfuhr ihn siedend heiß. Er beugte sich über sie und küsste ihre fieberheißen Lippen. Als dann aber ihre Hände sein Gesicht berührten und sie hauchte: „Mein Liebster, pass’ gut auf unser Töchterchen auf“, da überwältigten ihn doch seine Gefühle. Seine Schultern begannen zu zucken und er legte seinen Kopf an ihre Wange.
„Saida, meine liebste Saida, du wirst gesund. Ich will gleich ein Trank für dich zubereiten, damit das Fieber verschwindet. Hab nur etwas Geduld. Gleich wird es dir besser gehen.“
Er bedeutete Einurd, dass sie sich neben die Mutter setzen sollte und flüsterte ihr zu: „Warte hier, ich will die Medizin für deine Mutter zubereiten.“
Einurd nickte mit traurigem Gesicht und setzte sich zur Mutter. Sie hielt ihre Hand und mit der anderen streichelte sie ihre Wange.
Djarfur stürzte nach draußen und rannte Leif fast um, der mit einem Berg von Gepäck grade in die Hütte wollte. Er riss Leif sein Arzneibündel aus der Hand und befahl ihm ganz aufgewühlt: „Suche Feuerholz. Wir brauchen unbedingt, so schnell wie möglich ein Feuer. Ich geh zum Boot und hole mir den Topf“, dann rannte er los.
Leif legte das Gepäck ab und schüttelte den Kopf, aber er verstand auch, was in Djarfur vorging. Er hatte alles miterlebt, Djarfurs Wissensdurst, ein guter Heiler zu werden, das Volk der Umayyaden 4, ihren Fürsten, die beginnende Liebe zu Saida, das schöne Leben dort am Hofe und letztendlich ihre Flucht, die Djarfur ein Auge kostete. Er suchte mit schnellen Schritten die nähere Umgebung ab, um möglichst trockenes Treibholz zu finden, denn hier wuchs nicht mal ein größerer Strauch. Soweit seine Augen blickten, war hier nur Sand und Gras, das teilweise aber hüfthoch stand.
Auf dem Uferstreifen, der von den Gezeiten ständig überflutet wurde, fand er jedoch genügend Treibholz und so stapelte er sich damit den Arm voll. Wieder zurück in der Hütte, sah er Djarfur vor seinem Medizinbündel sitzen. Er war dabei einige Kräuter zu mischen. Wegen seiner überragenden Heilkunst war Djarfur überall, wo sie sich längere Zeit aufhielten, ein geachteter Mann gewesen.
Bei den Umayyaden, wo sie lange Zeit lebten, war Djarfur so etwas wie der Leibarzt des Fürsten, weil er es geschafft hatte, dessen Frau zu heilen, als alle anderen Heiler schon aufgegeben hatten.
Leif warf das Brennholz neben die Feuerstelle und begann das Feuer zu entfachen. Er wusste, dass er Djarfur jetzt nicht stören durfte und sah sich nach dem Topf und Wasser um. Als der Topf endlich über dem Feuer hing, ging er wieder hinaus, um noch ihr restliches Gepäck aus dem Boot holen. Djarfur mischte Blüten mit verschiedenen Kräutern und machte daraus einen Aufguss. Er hoffte, dass er damit wenigstens Saidas Fieber senken konnte. Sonst wusste er sich keinen Rat mehr, wie er ihr noch helfen konnte. Seine geliebte Saida wurde Tag für Tag weniger und er merkte voller Schmerz, wie das Leben aus ihr entwich.
Soviel er auch nachdachte, weder eine Ursache für ihre Erkrankung noch ein Mittel gegen diese Krankheit fielen ihm ein. Wie eine eiskalte Hand griff die traurige Erkenntnis nach seinem Herzen. Er prüfte die Wärme des Trankes mit seinen Lippen und setzte sich neben Saida.
Wieder sahen ihn Einurds große Augen so voller Hoffnung an, dass er nicht mehr wusste, wie er reagieren sollte. Er küsste seine Tochter auf die Stirn, hob dann sachte Saidas Kopf und flößte ihre behutsam den Trank ein. Im Stillen bat er Freya um Hilfe: „Freya, bitte, gib ihr Kraft, lass sie nicht sterben. Alle meine Schätze will ich für ihr Leben geben.“
Saida trank und ihr fiebriger Blick suchte sein Auge. Ein dankbares Lächeln huschte über ihr Gesicht, das auch jetzt noch im Fieber wunderschön war. Ihre Hand berührte ihn leicht, so zart, dass Djarfur glaubte, ein Schmetterling berühre ihn dort. Er stellte vorsichtig den leeren Becher ab und sah, dass Saida sofort wieder einschlief.
Es durchlief ihn eine heiße Welle, gemischt aus Zärtlichkeit und Trauer.
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