Im Mai 1915 feierte Hans seinen siebten Geburtstag. Der Wunschzettel, an die Mutter adressiert, blieb erhalten und darf als nicht gerade bescheiden gewertet werden, wünschte er sich doch unter anderem einen Atlas, sechs Bücher, eine Theaterkarte und eine komplette Uniform.17 Er erhielt aber wohl nicht alles, denn seinen ersten Besuch im Theater stattete er erst nach der Rückkehr des Vaters aus der russischen Gefangenschaft ab.
Wie der Vater in seinem Brief geraten hatte, verbrachte Hans den ersten Kriegssommer bei den Großeltern Weigl in Eisenstein (ersichtlich aus einer Feldpostkarte an den Vater vom 30. August 1915), in Karlsbad und auch in Chotieschau bei den zahlreichen Verwandten, denen er sich mit eigenen Briefchen ankündigte. Es wurde jedoch eine tragische Zeit: „Während des Sommeraufenthaltes 1915 ereilte die Familie eine schreckliche Nachricht: Onkel Hugo war gefallen. Ein großer Schock für die Familie – man trauerte sehr um den Sohn, Onkel und Bruder“, wie sich Hans Weigel erinnerte. „Doch es sollte noch schlimmer kommen: Onkel Theo wurde kurz darauf als vermisst gemeldet, er ist nie aus dem Krieg zurückgekommen.“18
Viele Einzelheiten der ersten Kriegsjahre, die Hans aus den Zeitungsberichten aufsog, blieben ihm, wie er in seiner Autobiografie anmerkte, in Erinnerung. Jahre später setzte er sich mit der unglücklichen Rolle des letzten Habsburger-Kaisers Karl I. auseinander: „Vermutlich hätte auch ein weniger Unbedeutender, ja sogar ein Napoleon oder Bismarck, vom Dezember 1916 an die Katastrophe nicht mehr aufhalten können. Karl war nicht auf seinen Kaiser-Beruf vorbereitet […], er schmiss zwar alle hinaus, aber er holte nicht die Richtigen und hatte es schwer, sich intern durchzusetzen. […] Mir kommt vor, dass die gesamte Geschichte Österreichs seit 1848 (spätestens) ein einziges schleichendes Ende gewesen ist, personifiziert in der Figur Franz Josefs, der achtundsechzig Jahre regiert hat und, wie mir scheinen will, in diesen achtundsechzig Jahren überhaupt nichts Bedeutendes oder Positives vollbracht hat.“19
Schon vorher hatte er seine Ansicht über den zu lange regierenden Kaiser zusammengefasst: „[…] man neigt zu einer idealisierenden Verklärung dessen, was vorher [vor dem Ersten Weltkrieg] war, und vergisst, dass diese unsere belle époque ja nicht von aussen her beendet wurde, sondern dass sie das, was folgte, verursacht, veranlasst hat. Dem Kaiser Franz Josef verdankt die Welt die zweifachen Millionenopfer der Weltkriege. Den Hitler, dem es den Stalin verdankt, verdankt Europa dem Kaiser Franz Josef.“20
Derartige Gedanken hegte natürlich der Volksschüler Hans noch nicht. In dieser Zeit war er durch die liebende Mutter wohlbehütet, schrieb dem Vater wiederholt nur kurz auf Feldpostkarten, dass es ihm und auch der Mutter gut gehe und er dasselbe für den Vater erhoffe. Einem etwas längeren Brief aus dem Winter 1916 ist trotz Krieg und Gefangenschaft des Vaters ein scheinbar normales Kinderdasein zu entnehmen:
Liebster Vater!
Seit vorgestern schneit es hier heftig und der Schnee ist schon 1/4 m. hoch, morgen gehe ich nach Hütteldorf rodeln. (Ich habe schon vorigen Winter eine famose Rodel bekommen.) Und nächsten Sonntag vielleicht zum Anninger, fein was? Am 10. Februar ist ein Kränzchen der Tanzschule und ich darf als Bajazzo hin, morgen ist Probe, ich freue mich sehr darauf. Auch bin ich neugierig, ob ich was kann, ich werde dir nachher über den Verlauf der Sache ausführlich Berichte erstatten; hoffentlich gute! Ich habe jetzt sehr, sehr viel zu lesen, hoffentlich werde ich bis zu meinem Geburtstage damit fertig.
Viele Grüße & Küsse von Hans
Ab 1916 führte Hans Weigel über viele Jahre hin ein „Konzert- und Theater-Merkbüchlein“. Darin vermerkte er in den Spalten „Namen des Interpreten“, „Autor oder Komponist“, „Wo aufgeführt“, „Wann“ und „Bemerkungen“ seine Konzert- und Theaterbesuche. Auf einzelne Beispiele soll später noch eingegangen werden. Die Bemerkungen können nicht als erste Kritiken gewertet werden, sondern waren meist allgemein gehaltene, kurze, ganz subjektive Stellungnahmen des Jugendlichen.
Das trotz des Krieges fast normale Leben von Hans Weigel spiegelt sich auch in anderen Briefen wider, zum Beispiel wenn er dem Vater am 28. Februar 1916 mitteilte, dass es ihm „in der Schule gut geht“ und er „ziemlich fleissig“ sei. „In der Freien Schule stellten ‚jüdische‘ Kinder mindestens die Hälfte meiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Ich war mit Ihnen befreundet, ohne diese Tatsache bewusst wahrzunehmen oder die anderen abzulehnen: mit dem Gerhart Pisk [mit dem Weigel eine lebenslange Freundschaft verband], dem Walter Braun, dem Hans Schwarz, dem Paul Strassberg, der Lili Munk, der Edith Wolf … – unsere Eltern waren befreundet, sie war ‚meine Braut‘ und starb mit acht Jahren.“21
Von Edith Wolf schrieb er seinem Vater am 25. März 1916: „Mit Edith komme ich oft zusammen, wir machen täglich gemeinsame Spaziergänge […]“22, oder am 13. April 1916: „Montag war ich bei der Edith zum Geburtstag eingeladen. Es waren noch 3 andere Kinder dort. Wir haben uns sehr gut unterhalten […]“ Am Tag seines Geburtstags folgte an den Vater eine genaue Aufzählung der Geburtstagsgeschenke. Dabei zeigte Weigel, dass er Worte richtig abteilen konnte:
29. Mai. Liebster Vater!
Gestern habe ich au=ßer dei=nem Buche wofür ich herz=lich danke folgendes be=kommen:
1. Eine glückli=che Familie von Tony Schumacher.
2. Peter Pan im Waldpark von Barrie frei ins Deutsche übertra=gen von J. Funke.
3. Robinsohn Crusoe von Daniel Defoe, für die Jugend bearbeitet von Albert Geyer.
4. Die Biene Maja und ihre Abenteuer von Waldemar Bonsels.
5. Kipling’s Märchenbuch.
6. Seybolds Taschen-Welt-Atlas.
7. Einen Ankersteinbaukasten.
8. vier Gesellschaftsspiele heißen: Halma, Tombola, Glocke und Hamer Wettrennen.
9. Ein Kanarienvogel.
Dem Datum nach ist der Geburtstag erst Heute, er wurde gestern gefeiert, weil gestern Sonntag war. Wie geht es dir? Viele recht herzliche Grüße von deinem Sohn Hans
Auch 1916 war ein trauriges Jahr für die Familie Weigel. Wenige Wochen vor Weihnachten starb Hans’ Großmutter unerwartet im 65. Lebensjahr. Hatten er und seine Mutter im Geschäft schon seit Kriegsbeginn mitgeholfen, so ruhte nun die ganze Last auf Regine Weigel, die ein Französisch sprechendes Kindermädchen, Fräulein Ella Specht, einstellte, das mit Hans lernen und auch spazieren gehen sollte.
Regines in der Schweiz lebender Bruder Albert überlegte, nach Wien zu kommen, um das Versandhaus zu übernehmen, doch ließ er länger auf sich warten. Von all dem spiegelt sich nichts in Hans’ Briefen an den Vater. Am 6. Dezember 1916 berichtete er vom Besuch des „Krampus mit einer großen Rute, einem Schlitten und einem Sackerl voll Zuckerln“ und am 22. Dezember vom Beginn der Weihnachtsferien „um 12 Uhr Mittag und ich habe folg. Zeugnis bekommen: ‚Das Betragen zufriedenstellend, der Fleiß gleichmäßig, in den Fertigkeiten (Schreiben, Zeichnen) geschickt, der Fortgang vollkommen enschpr.‘, kurz sehr gut“.
Dass der neunjährige Hans dem Weihnachtsgeschenk für seine Mutter, einer Vase, einen eigenen Reim beifügte, mag noch nicht verwundern, auch das Gedicht zu ihrem Geburtstag ist noch nichts Außergewöhnliches. Bemerkenswert ist aber die Fantasie eines Schulaufsatzes, den Regine ihrem Mann am 18. März 1917 weiterleitete:
Mein Liebster!
Nachstehend übersende ich Dir Deines Sohnes letzten Aufsatz, dessen Inhalt Dir wegen der großen darin enthaltenen Gedankenfülle gewiss ebenso große Freude wie mir machen wird; die Abschrift ist mit allen Fehlern des Originals erfolgt:
„Was ein Brief erzählt.
Ein Brief erzählte seinen Kameraden in der Kriegserinnerungs-Lade: ‚Ich bin in der Wiener Papierfabrik M. Munk‘ entstanden. Als ich Papier wurde kam ich in eine Schachtel und wurde in eine Papierhandlung getragen. Hier lag ich lange Zeit bis einmal ein Herr, mit einer schönen Uniform und mit vielen Orden, eintrat und fragte: ‚Was kostet dieses Briefpapier, Fräulein.‘ Das Fräulein sagte darauf etwas was ich nicht verstand der Herr nickte und sagte: ‚Ich werde es dann abholen lassen‘ und ging weg. Bald darauf kam wieder ein Mann und sagte: ‚Ich soll das Briefpapier für den Kaiser abholen.‘ Ich war sprachlos. Der Kaiser sollte auf mir schreiben, na so etwas! Ich konnte meinen Gedanken und Gefühlen nicht mehr nachhängen, denn ich wurde unsanft gehoben so daß mir die Sinne vergingen. – Als ich erwachte lag ich in einem schönen Zimmer am Schreibtische. Da ging die Türe auf und herein trat der – Kaiser. Er setzte sich zum Schreibtisch öfnette die Schachtel und nam mich als erstes Blatt heraus und schrieb einen Armee- und Flotten-Befehl auf mir nieder. Er lächelete als ich in mit meinen großen Augen unverwandt anblickte. Als er schon die Unterschrift gesetzt hatte stekte er mich in ein dunkles Gefägnis das die Menschen Briefumschlag nennen. Ich wurde hin- und her gerüttelt und schlief bei diesen regelmäßigen Bewegungen ein. Ich erwachte als die Bewegungen aufhörten. Das Gefängnis wurde gesprengt und ich sah wieder das Tageslicht. – Ich befand mich in einem großen, geräumigen Zimmer wo viele Menschen versammelt waren. Alle lasen mich und ich wurde so lange herum gereicht bis mich alle gelesen hatten und ich hirher kam.“
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