Am liebsten würde ich mit Berlioz zusammentreffen, weil er so eine umfassende Bildung besaß, und einfach mit ihm plaudern.
In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?
Sicherlich nicht heute, in der Zeit der verkrampften Suche nach neuen Klangeffekten. Wahrscheinlich in der Zeit von Brahms, Bruckner und Mahler, als die Formen sich völlig aufgelöst haben und so viele neue Richtungen entstanden sind.
Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Vor einiger Zeit ist die sogenannte „Wiener Fassung“ von Mozarts Don Giovanni herausgekommen. Die Kürzungen, die bei der damaligen Aufführung gemacht wurden, habe ich zwar sofort umgesetzt, doch teilweise wieder rückgängig gemacht, weil Mozart sie offensichtlich nur aus pragmatischen Gründen, etwa wegen einer schlechten Besetzung oder auch wegen der Zensur, gemacht hat. Meine Antwort lautet also: Ja zum Urtext, aber im Endeffekt muss der Dirigent entscheiden dürfen, was er umsetzt. Bei der Regie ist es ganz ähnlich. Solange die Regie die Musik nicht stört, ist alles möglich. Ich habe in Barcelona Don Giovanni mit Calixto Bieito gemacht. Obwohl es fürchterlich brutal war, hat es mich überzeugt. Ein Grundproblem von vielen heutigen Regisseuren liegt allerdings darin, dass sie überhaupt keine Kenntnis mehr von der Musik und dem Libretto haben, und mit denen lehne ich eine Zusammenarbeit ab.
Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?
In erster Linie tragen wir daran die Schuld. Die wenigsten Dirigenten sind dazu bereit, ein neues Stück zu lernen. Und wie sollen wir das Publikum von der Qualität eines Stückes überzeugen, wenn wir es selbst nicht wollen. Es ist unsere Aufgabe UND PFLICHT als Dirigent, den Veranstaltern, den Musikern und dem Publikum zu zeigen, dass es auch gute zeitgenössische Musik gibt. Und das erfordert viel Mühe. Dabei ist die Angst vor der neuen Musik nicht angeboren. Als meine Frau „Donna Elvira“, Schönbergs Erwartung und Bergs Wozzeck gesungen hat, sang meine siebenjährige Tochter in der Badewanne alle drei Stücke mit der gleichen Begeisterung.
Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?
Man braucht als Dirigent nicht gut zu sein, man muss nur besser sein als die anderen, was allerdings nicht unbedingt bedeutet, dass man gut ist. Einmal saß ich beim Dirigentenabschlusskonzert an der Wiener Musikuniversität – da war niemand, der einmal ein guter Dirigent werden wird! Niemand scheint mehr neugierig zu sein. Ich habe mit den jungen Leuten über die „Erste“ von Mahler geredet und nicht einer kannte die Aufnahme von Bruno Walter, der schließlich noch mit Mahler zusammengearbeitet hatte. Die Studenten hätten in Wien die Möglichkeit, alle großen Dirigenten bei der Probe zu erleben und mit ihnen zu sprechen, doch niemand geht hin. Das ist jedoch nicht nur in Wien so. Als ich vor 20 Jahren Georges Prêtre zum ersten Mal wegen einer Neueinstudierung der Perlenfischer traf, sagte er mir, dass ich der erste Student sei, der sich jemals bei ihm gemeldet hat.
Allerdings muss man auch sagen, dass mit Ausnahme von Daniel Barenboim die wenigsten Dirigenten ihre Verpflichtung erkennen, ihre Erfahrungen an die jungen Kollegen weiterzugeben.
Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?
Das Ziel eines Konzerts sollte darin bestehen, im Publikum ein positives Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das die Menschen einander näherbringt.
Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?
Entwicklungshelfer.
Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?
Daniel Barenboim, weil er nicht nur ein großer Musiker, sondern auch ein großer Geist ist. Toscanini wegen seiner Energie und rhythmischen Präsenz. Ebenso Fritz Reiner und Erich Kleiber, dessen Mozartaufnahmen auch heute noch ihre Gültigkeit haben. Der Grandseigneur Bruno Walter, weil man seine natürliche Autorität, die aus Wissen und Können resultierte, noch heute in seinen Aufnahmen spüren kann. Und so viele andere wie Klemperer, Mitropoulos, George Szell, Pierre Monteux, Charles Munch, Istvan Kertesz …
Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?
Bachs h-Moll-Messe unter Carlo Maria Giulini in Paris. Er hat uns alle zwei Stunden lang in den Himmel geführt.
Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?
Mit meiner Familie.
Was hören Sie in Ihrer Freizeit?
Sehr viel Jazz und sicher niemals meine CDs! Zur Entspannung auch Gregorianik.
Wenn ich etwas Neues einstudiere, höre ich mir nach dem Studium sehr viele Aufnahmen davon an, aber im Moment gibt es keine Freizeit mehr.
Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?
Ja. Alles ist, sofern es überzeugend dargebracht wird, legitim, schließlich lebt man auch als Dirigent in seiner Zeit und wandelt sich zusammen mit ihr.
Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?
Die Forschung nach alternativer Energie.
Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen?
(lacht) Nicht zunehmen! Mehr auf den Ausgleich zwischen Körper und Geist achten.
Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?
Meine Familie, Der kleine Prinz von Saint-Exupéry und eine Flasche Dom Pérignon 1996.
Welches Motto steht über Ihrem Leben?
Ernst bei der Sache, nicht allzu ernst bei sich selbst.

PIERRE BOULEZ
* 26. März 1925, Montbrison
† 5. Jänner 2016, Baden-Baden
Widersprüchlicher konnte ein Mensch kaum sein.
Bereits als 20-Jähriger hatte Pierre Boulez bei einem Pariser Strawinsky-Konzert lautstark gegen dessen „neoklassische Färbung“ protestiert, obwohl er ihn bis zuletzt als sein Vorbild bezeichnete – und dieser ihn wiederum als seinen legitimen Erben ansah. Als in den 1950er-Jahren die Wiederentdeckung von Schönberg einsetzte, proklamierte er kurzerhand, dass „Schönberg tot“ sei, weil er sich zu wenig radikal von den konventionellen Satzformen entfernt hätte – einige Jahre später führte er ihn exemplarisch auf. Die Kompositionen von Alban Berg bezeichnete er als Kitsch, um an anderer Stelle seine Liebe zu ihm einzugestehen.
Obwohl ihn Otto Klemperer als den Einzigen seiner Generation bezeichnet hat, der ein ausgezeichneter Dirigent und Musiker sei und er für seine zahllosen Aufnahmen unglaubliche 26 „Grammy Awards“ erhielt, betrachtete er sich nicht in erster Linie als Dirigent.
Niemals hätte man solche Widersprüchlichkeiten bei einem anderen Künstler hingenommen – Pierre Boulez war einer der wenigen Musiker, dessen Äußerungen in jedem Falle ernst genommen wurden. Denn er war schon zu Lebzeiten zu einer Institution geworden, wobei man anmerken sollte, dass er auch gleichzeitig als einer der führenden Komponisten unserer Zeit galt.
Allerdings zeitigten seine Äußerungen auch durchaus fatale Folgen. 1967 proklamierte Boulez in einem viel beachteten „Spiegel“-Interview, dass es am besten sei, „die Opernhäuser in die Luft zu sprengen“, was neben den üblichen Verwerfungen auf den Feuilletonseiten 34 Jahre später noch ein Nachspiel hatte, als er von einem Sonderkommando der Schweizer Polizei nächtens in seinem Basler Hotelzimmer überwältigt wurde, da er zu „Sprengstoffattentaten“ aufgerufen hätte … Die wackeren eidgenössischen Gesetzeshüter konnten natürlich nicht wissen, dass diese Äußerung grob aus dem Kontext gerissen war. Der Dirigent hatte damals lediglich die an Opern übliche Routine und ungenügende Vorbereitung bemängelt, der am „elegantesten“ auf diese Art zu begegnen sei. Pierre Boulez liebte es eben, Denkanstöße zu vermitteln. Schließlich hatte er zum Zeitpunkt dieses Aufrufs schon seine ersten großen Erfolge als Operndirigent gefeiert. Wieland Wagner hatte ihn überraschenderweise dazu eingeladen, 1966 den Parsifal in Bayreuth zu dirigieren. Das Wagnis gelang: Zwar brach der 38-Jährige bewusst mit allen Traditionen und entkleidete das „sanctum sanctorum Wagners“ von jeglicher Sentimentalität, doch durch die sachliche Annäherung geriet das Weihefestspiel in ein völlig neues, weil transparentes Licht. Nach diesem viel diskutieren Erfolg wurde Boulez zehn Jahre später damit beauftragt, zusammen mit dem Filmregisseur Patrice Chereau den Jahrhundert-Ring am Grünen Hügel zu gestalten. Die Rezeption durch das Publikum war für Boulez durchaus typisch: Gerieten die Aufführungen im ersten Jahr zum handfesten Skandal, endete die letzte Götterdämmerung vier Jahre später mit 101 Vorhängen und 90 Minuten Applaus, sodass er 2004 erneut zu einem Parsifal nach Bayreuth geladen wurde, wobei durchaus bemerkenswert war, dass er das Weihefestspiel im gleichen ungewöhnlich raschen Tempo durchmaß wie fast 40 Jahre zuvor. Das überrascht nicht, denn Boulez galt als ausgesprochen vernunftgesteuerter Dirigent. Selbst bei hoch emotionalen Werken, wie etwa Mahlers Symphonien, wirkte er niemals persönlich involviert. Mit der durchaus berechtigten Frage konfrontiert, ob er denn während einer Aufführung keine Empfindungen habe, antwortete er nur, dass er sehr wohl Emotionen habe, aber nicht verpflichtet sei, sie zu zeigen.
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