Worum es mir zunächst geht, ist, festzuhalten, dass das Philosophieren einen lebensgeschichtlichen Hintergrund hat, dass also ein »unpersönliches« Philosophieren letztlich unmöglich ist. Aber man muss das Problem der Lebenserfahrung anders fassen als so, dass man sagt: hier ist die Lebenserfahrung und daraus kommt irgendwie – gar noch kausal-determiniert die Motivation zur Philosophie. Es gibt vielmehr eine wechselseitige Beziehung zwischen Philosophie und Leben. Die Lebenserfahrung steht schon im Einfluss der Philosophie, so wie die Biographie dann auch das Philosophieren mitbestimmt. Philosophie und Leben bilden so etwas wie eine Symbiose. Das Verhältnis des Philosophen zur Philosophie ist nicht biographisch, sondern sozusagen sym-bio-graphisch.
Wenn also der Biograph Sperber über Marx sagt, dass man Marxens Leben berücksichtigen müsse, um dessen Gedanken zu verstehen, dann muss man sehen, dass das Leben selbst schon von Gedanken beeinflusst ist. Ich könnte daher sagen: um Marxens Leben zu verstehen, muss man sich (auch) seine Gedanken anschauen. 5Und das ist das, was ich hier vor allem tun werde. Zugleich werde ich im Auge behalten, wie sich Marx’ Biographie gestaltet hat, denn diese steht tatsächlich im Schatten seines Denkens.
(Ich möchte hier kurz bemerken, dass der Begriff des »Lebens« mindestens zweideutig ist. Einerseits lässt er sich als das organische Leben (zoé) fassen, andererseits als das sich in einer individuellen Geschichte manifestierende Leben (bíos). Eine Biographie erfasst demnach nicht ein biologisches Geschehen, sondern ein persönliches. Doch auch das ist nicht so einfach. Das Leben als Überleben, das Leben in seiner organischen Gestalt, greift aufs intellektuelle Leben über. Gerade Marx wird uns dieses Übergriffige des Lebens erläutern.)
Marx wurde am 5. Mai 1818 als drittes Kind des Rechtsanwalts Heinrich Marx und seiner Frau Henriette in Trier geboren. Die Marxens lebten eine sehr aufgeklärte Form des Judentums, waren eine alteingesessene und mehr oder weniger wohlhabende jüdische Familie (der Vater konvertiert übrigens zum Protestantismus). Das ist deshalb bemerkenswert, weil ich mich mit dem Text Zur Judenfrage von Marx noch beschäftigen werde, einem berühmtberüchtigten Text, den man wohl als antisemitisch bezeichnen muss, wobei dann genauer zu sagen sein wird, inwiefern dieser Text antisemitisch ist.
Im Jahr 1835 geht Marx nach Bonn, um Jura zu studieren. 6Das sieht natürlich so aus und muss auch so gesehen werden, als dass der Sohn Marx hier das tut, was der Vater bereits tat. All das ist mehr oder weniger unauffälliges, gewöhnliches Leben. Das Auffälligste ist wohl die Liebesgeschichte mit Jenny von Westphalen, die Marx nach langem Hin und Her heiratete; sie sollte Marx sieben Kinder gebären, von denen nur drei Töchter überlebten, die allerdings auch wiederum eher schwierige Lebenswege hatten. (Diese Liebesgeschichte wird in dem neuen Film Der junge Marx ausführlich behandelt.) Übrigens war Marx in seiner Ehe ein zuhöchst bourgeoiser Typ, Patriarch, zuweilen wohl sogar Despot. Jenny Marx begleitete ihren Mann durch alle Schwierigkeiten, die sich aus seinem Denken ergaben.
Nach einem Jahr in Bonn, in dem er offenbar mehr oder weniger durch Saufen und Randalieren auffiel, wechselte Marx nach Berlin (zur heutigen Humboldt-Universität), um bei dem Hegelianer Eduard Gans Vorlesungen zu hören. Hegel war dort 1831 an den Folgen der Cholera gestorben. Sein Denken war noch aktuell. Man kann sagen, dass Marx’ Schritt nach Berlin den Anfang seiner philosophischen Biographie bedeutete. Denn mit Hegel, vor allem mit dessen Rechtsphilosophie , wird sich Marx intensiv beschäftigen. Das ist eine Quelle des Marx’schen Denkens, doch nicht die einzige. Ich werde mich ein wenig dabei aufhalten.
Hegel war ein akademisches Ereignis ersten Ranges. Er machte Berlin zum europäischen Zentrum der »Wissenschaft« im Sinne Hegels; und europäisches Zentrum zu dieser Zeit hieß Welt-Zentrum. Warum aber? Weil die systematische Auffassung der Philosophie nicht nur Philosophie im engeren Sinne berücksichtigte. Dafür steht ein Buch mit dem Titel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse , in erster Auflage 1817 in Heidelberg erschienen, 1827 in zweiter, sehr veränderter Form noch einmal veröffentlicht, 1830 in einer etwas weniger veränderten ein weiteres Mal. Dieses Werk stellt das »System« in seiner reifsten Form dar.
Das »System« enthält alles, was man damals überhaupt wissen konnte, in einem durchgängigen Zusammenhang, wobei der durchgängige Zusammenhang selber »logisch« begründet wurde. Die Dreigliederung lautet so: 1. Wissenschaft der Logik; 2. Wissenschaft (Philosophie) der Natur; 3. Wissenschaft (Philosophie) des Geistes. Sie sehen also schon, dass die Naturwissenschaft für Hegel etwas war, was sich zwischen der Logik und der Philosophie des Geistes noch in ein »System« hat einfügen lassen. Die Natur, sehr grob gesagt, entspringt der »Idee«, wird also von der Logik des Begriffs (im Unterschied zur Logik des Seins und des Wesens) her verstanden. Noch einfacher: die Natur wird idealistisch verstanden, sie ist ein Epiphänomen des Geistes. Das sollte für Marx – und zwar in negativer Form – sehr wichtig werden.
Die Rechtsphilosophie hat natürlich auch einen Ort in diesem »System«, und zwar im sogenannten »objektiven Geist« (im Unterschied zum subjektiven und absoluten), im dritten Teil, in der »Philosophie des Geistes«. Doch Marx beschäftigt sich mit einer eigenen Fassung der Rechtsphilosophie, die Hegel 1820 unter dem Titel Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse herausgegeben hat. Diese Schrift ist ein Hauptwerk der politischen Philosophie schlechthin, die politische Schrift des sogenannten deutschen Idealismus.
An Hegels »System« konnte man in der Zeit, in der Marx sich in Berlin aufhielt, nicht vorbeigehen. Zumal es damals eine Diskussion um die Fortsetzung des Hegelianismus nach dem Verscheiden des Meisters gab. Diese wurde zwischen sogenannten Rechts- und Linkshegelianern ausgetragen. Die Rechtshegelianer übernahmen den konservativen Part der Diskussionen. Sie betonten die Wichtigkeit der Hegel’schen Religionsphilosophie, wonach der preußische Protestantismus und dann auch der von diesem her gefasste Staat so etwas wie das Endprodukt der Vernunft-Geschichte schlechthin darstellte. Hegel selbst hatte in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen auf die Rationalität des Christentums, der absoluten Religion, immer wieder hingewiesen.
Dagegen standen nun die sogenannten Jung- oder Linkshegelianer, darunter z. B. Arnold Ruge oder ein gewisser Bruno Bauer, der uns noch begegnen wird. Diese Linkshegelianer fanden sich mit der Saturiertheit der Rechtshegelianer nicht ab. Sollte die Wirklichkeit wirklich vernünftig, die Vernunft verwirklicht sein (wie es in der Vorrede zur Rechtsphilosophie von Hegel gesagt wird)? Die soziale Realität legte das nicht nahe. Die Welt sah doch anders aus. Die Linkshegelianer machten darauf öffentlich aufmerksam. Wichtig auch, dass der genannte Arnold Ruge 1838 einen gewissen Ludwig Feuerbach zur Teilnahme an den sogenannten Halleschen Jahrbüchern aufforderte. Feuerbach, 1804 geboren und 1872 gestorben, veröffentlichte im Jahr 1841 ein Buch mit dem Titel Das Wesen des Christentums . Dieses Buch wurde als eine tiefgreifende Kritik an der christlichen Religion verstanden. 1843 publizierte Feuerbach die Grundsätze der Philosophie der Zukunft , in denen er noch einmal sein Hauptwerk rekapituliert. Für die Linkshegelianer war Feuerbach ein Mitstreiter, selbst wenn er sich eher am Rand aufhielt. Auch auf ihn muss ich im Folgenden zu sprechen kommen. Er ist in der Tat ein bemerkenswerter Philosoph (er war das auch für jemanden, der hier nur am Rande genannt werden kann: nämlich für Richard Wagner).
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