König Leopold V., ihr Vater, war vor zwei Jahren an Leukämie verstorben. Und Stephen vermisste ihn heute mehr denn je.
»Du bist wie der Elefant im Porzellanladen.«
»Nathaniel, ich brauche dein Urteil nicht. Ich bin heute noch überzeugt davon, dass es richtig war, was ich getan habe. Von den ganzen rechtlichen Umständen einmal abgesehen, die sich erst änderten, als du Susanna heiraten wolltest, musste ich alles von Afghanistan vergessen und einfach weiterleben. Und dazu gehörte Corina. Wie hätte ich sie ansehen und mich nicht erinnern sollen?«
»Ich kann nicht glauben, dass sie einfach so nachgegeben hat.«
»Sie hat auch nicht nachgegeben. Bis ich ihr sagte, dass ich auf den Thron verzichten müsste. Da hat sie sich dann langsam damit abgefunden, dass es vorbei war.«
»Aber dass du bei Carlos warst, als er starb, hast du ihr nie gesagt?«
»Nein.« Der Schmerz auf ihrem Gesicht, als er ihr sagte, dass er aus ihrer Ehe herauswollte, hatte ihn beinahe umgebracht. Dieser Anblick war für alle Zeiten in sein Herz eingebrannt. Er weigerte sich, dem noch ein Bild davon hinzuzufügen, wie sie darüber weinte, dass Carlos unnötig gestorben war. Dass er seinetwegen gestorben war.
Daher löschte Stephen die Erinnerung an den Tag, an dem er ihre Ehe beendet hatte, aus. Doch das Gespräch mit Nathaniel zerrte ihn durch die Tiefen und die dunkelsten Winkel seines Verstandes und brachte Bruchstücke und Splitter dieses schrecklichen Tages an die Oberfläche.
Sie hatte so bitterlich geweint, gefleht. Ihn an ihrer beider Liebe erinnert. Wie sehr sie ihn nach Carlos Tod brauchte. Stephen hatte beinahe nachgegeben und sie in die Arme geschlossen, um ihr zu sagen, dass alles gut werden würde.
Doch dann hatte er die Explosion wieder gehört, die gellenden Schreie. Hatte das Blut an seinen Händen gesehen. Und so hatte er es nur gerade so geschafft, nicht auf der Stelle aus ihrer Gegenwart zu fliehen.
Stephen presste sich die Finger an die Stirn und schloss energisch die Tür zu diesen Erinnerungen.
»Sag mir noch eins – wie kann es sein, dass Erzbischof Caldwell bei der Hochzeit so einfach mitgemacht hat?«, sagte Nathaniel.
»Zuerst protestierte er, aber dann machte ihm seine Frau eine schöne Tasse Tee, und hinterher schien er ganz umgänglich. Ich nehme an, er glaubte uns, dass wir uns liebten und wussten, was wir taten.« Stephen fasste Nathaniel an den Arm. »Ich habe sie geliebt. Wirklich. Aber Torcham hat alles verändert.«
»Dir ist schon klar, dass du das in Ordnung bringen musst?!« Nathaniel schob ihm den Umschlag zu.
»Es gibt da nichts in Ordnung zu bringen. Sie glaubt, dass es vorbei ist. Und es ist vorbei. Wirf das Ding in den Müll.«
Nathaniel griff in die Hosentasche und brachte ein zusammengefaltetes Stück Papier zum Vorschein. »Ich habe dir doch bereits gesagt, dass wir das nicht tun können. Erzbischof Burkhardt hat der Urkunde diese Notiz beigelegt. Soll ich sie vorlesen?«
»Ich bitte höflichst darum.« Sarkasmus. Er war am Ende seiner Geduld angekommen.
»Er schreibt: ›Ich bin unsicher, was die Bedeutung dieser Urkunde anbetrifft. Prinz Stephen hat meines Wissens nach derzeit keine Ehefrau. Aber egal, was aus dieser Beziehung geworden ist, bete ich doch darum, dass er sie vor Gott und Menschen ehrenvoll behandeln wird. Während ich annehme, dass er sie im Geheimen geheiratet hat, so kann er sie doch nicht auf die gleiche Weise ablegen. Bei der Kirche muss eine ordentliche Aufhebung der Ehe verzeichnet werden.‹«
»Ich habe sie nicht im Geheimen abgelegt. Sie weiß Bescheid. Ich habe persönlich mit ihr gesprochen.«
»Du wirst ein Aufhebungsverfahren anstrengen müssen. Lass uns beten, dass sie in der Zwischenzeit nicht jemand anderes geheiratet hat. In letzter Zeit war nicht viel über sie oder ihre Familie in den Medien, und ich nehme an, es wäre eine Angelegenheit von großem öffentlichen Interesse, wenn Corina Del Rey heiratet.«
»W-was?«, entfuhr es Stephen. Sie konnte nicht wieder geheiratet haben. Würde sie das tun? Wie ein Peitschenhieb traf der Gedanke sein eifersüchtiges Herz.
»Sie ist eine schöne, intelligente Frau. Dir muss doch wohl in den Sinn gekommen sein, dass auch ein anderer Mann sie haben wollen könnte. Dass sie weiterleben, eine Familie gründen möchte.« Nathaniel sah auf seine Armbanduhr. »Tut mir leid, dass ich das hier jetzt unterbrechen muss, aber ich muss zu einem Meeting. Ruf Jonathan morgen früh an. Er wird dir helfen, sie ausfindig zu machen. Dann kannst du mit der Royal Air One hinfliegen und dich mit ihr treffen.«
»Wie bitte? Nathaniel, ich werde mich nicht mit ihr treffen. Wir können ihr die Unterlagen per Kurier schicken.«
»Stephen, sie ist deine Ehefrau und verdient es, mit Respekt und Ehrerbietung behandelt zu werden. Besonders, weil sie die letzten fünf Jahre lang einer Lüge aufgesessen ist und geglaubt hat, sie sei ein freier Mensch, obwohl das gar nicht der Fall war. Mal davon abgesehen, dass sie ausgerechnet mit dem königlichen Prinzen von Brighton verheiratet ist. Ich würde sagen, sie verdient es, so ehrenvoll wie eine Prinzessin behandelt zu werden.« Nathaniel ging durch die Küchentür. »Wenn du weiter so argumentierst, muss ich andere Saiten aufziehen.«
»Das wirst du nicht.«
»Stell mich nicht auf die Probe.«
Er fühlte sich wieder wie zwölf. Unter dem missbilligenden, prüfenden Blick seines Vaters, nachdem er seine Kumpels mit in den Thronsaal genommen und eine Kegelbahn aufgebaut hatte. »Ich hatte vor, mich darum zu kümmern.« Stephen ging mit seinem Bruder zur Eingangstür. »Aber dann habe ich in den Summer Internationals gespielt. Dann wurde mir klar, dass ich die Heiratsurkunde ja auch gar nicht hatte, und da habe ich es dann einfach auf sich beruhen lassen.«
»Hast du den Weg zum Büro des Erbischofs vergessen?« Nathaniel öffnete die Tür, und der Duft des Abendregens drang in die Wohnung. »Bring das in Ordnung, Stephen.«
Herrschaftszeiten. Bisher hatte er noch nicht das Vergnügen mit dem König-Bruder Nathaniel gehabt. Aber er hatte recht. Stephen musste sie sehen. Musste Corina das persönlich sagen. Mit einem riesigen, gewichtigen Seufzer sank er auf den nächstbesten Stuhl und starrte aus dem Fenster.
Der Regen fiel in Strömen und platschte auf den sommerwarmen Gehweg. Und in der Ferne hörte Stephen die ersten aufeinander abgestimmten Töne des abendlichen Sechs-Uhr-Läutens der Stadt.
Eins …
Zwei …
Drei …

Es war spät. Sie war müde und bereit, nach Hause zu fahren. Aber seitdem Mark Johnson am Montagnachmittag angekommen und mit der Gewichtigkeit eines Wahlkampfkandidaten durch das Büro spaziert war, Hände geschüttelt und Hoffnung und Veränderung in Aussicht gestellt hatte, hatte sich Corinas Arbeitspensum verdoppelt.
Ihr war die Aufgabe erteilt worden, ihn mit den Schreibern und der Arbeitsweise des Büros bekanntzumachen. Sie hatte ihre Tage damit verbracht, ihm sowohl die Mannschaft hier in Melbourne, Florida, als auch – mithilfe des Internets – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auf der ganzen Welt verteilt waren, vorzustellen.
Nachdem dann alle anderen Feierabend gemacht hatten, war sie an den Abenden geblieben, um die E-Mails der Korrespondenten zu beantworten, Artikel zu editieren, nach den Bloggern zu sehen und sicherzustellen, dass Abgabetermine eingehalten wurden.
Sie versuchte, Mark das virtuelle Aufgabenbrett der Abteilung zu zeigen, damit er einige der Aufgaben übernehmen konnte, aber er verharrte im Wahlkampfmodus, schleimte sich bei Gigi und den Mitarbeitern ein, war ständig abgelenkt und nahm Anrufe von seinem früheren Arbeitgeber ebenso an wie die von seiner Frau, seinem Immobilienmakler und irgendeinem Typen, der ihm ein maßgeschneidertes Surfbrett baute.
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