Bedauern. Das trug er wie einen Winterschal. Wenn er zurückreisen und irgendetwas an den Ereignissen ändern könnte, die zu dieser Nacht geführt hatten, er würde es tun. Aber das konnte er nicht, und sechs Männer waren gestorben. Für ihn.
Stephen schlug mit den Fäusten gegen die Fliesen der Dusche. Er wusste es nicht. Er wusste es nicht!
Was machte es schon für einen Unterschied, was er ihr erzählte? Er würde einfach etwas erfinden. Denn egal, ob sie die Papiere nun unterschrieb oder nicht, ein freier Mann würde er ohnehin nie sein.
Und das war eine Tatsache, mit der er für den Rest seines Lebens auskommen musste.
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Corina verließ zum vertrauten »Ping« den Fahrstuhl in ihrem Wohnkomplex, am einen Arm schwangen Plastiktüten, im anderen hielt sie eine Vase voller roter Rosen.
Gigi hatte ihre Angestellten gerade in den Feierabend geschickt, damit sie sich um ihr Zuhause und ihre Familien kümmern konnten, als Thomas angerufen und sie mit seiner freundlichen Stimme um einen Unterschlupf gebeten hatte.
»Es ist nur so, dass wir niemand anderen hier kennen und eine sichere Zuflucht brauchen.«
»Ja, also, ich weiß nicht …«
»Bitte, Corina, Sie sind unsere schnellste und sicherste Möglichkeit.«
Seufz. »Nur, wenn er sich anständig benimmt.«
Thomas lachte. »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«
Aber mal im Ernst: Was sollte sie denn tun? Thomas absagen? »Soll der Mistkerl doch ins Meer gespült werden.« Oder: »Dann müssen Sie dem Sturm eben im Sea Joy Motel trotzen.«
Als sie ihren Einkaufswagen durch den überfüllten Supermarkt schob, fand sie den Silberstreif am Horizont. Gute 18 Stunden in ihrer Wohnung festzusitzen, während draußen ein Sturm tobte, könnte genau das Richtige sein, um Stephen die Wahrheit abzupressen.
Sie nickte Captain, dem Türsteher, zu, als sie die Eingangshalle betrat. Stephen und Thomas folgten ihr auf dem Fuße.
»Ich hoffe, wir drängen uns nicht zu sehr auf.«
Sie drehte sich um und sah Stephen, ach so selbstbewusst, mit großen Schritten auf sich zukommen.
Sie balancierte die Rosen und fasste die Griffe ihrer Plastiktüten noch einmal etwas fester. »Ich habe doch ja gesagt, oder?« Sie drückte auf den Fahrstuhlknopf. Ihr Herz schlug einen Trommelwirbel voller Gefühle.
An ihrer Wohnungstür angekommen, lud Corina die Herren ein und zeigte ihnen den Weg zu dem Schlafzimmer am Ende des kurzen, dunklen Flurs. Sie war sich sicher, dass ihr die Rosen gleich aus der Hand rutschen würden. »Im Schrank im Badezimmer sind frische Handtücher.« Sie atmete tief durch, als sie ihre Einkäufe auf der Kücheninsel abstellte.
»Corina, die Krone bedankt sich bei Ihnen«, sagte Thomas mit großer Aufrichtigkeit in seinem tiefen Bariton. »Wir werden Ihnen jegliche Ausgaben erstatten –«
»Also bitte, Ausgaben.« Sie grub eine Tüte Erdnuss-M&Ms aus einer Tasche. »Meinen Sie die extravaganten fünf Dollar, die ich für die hier bezahlt habe?«
»Das ist meine Lieblingssorte«, sagte Stephen mit einer beiläufigen, saloppen Art, die so gar nicht nach ihm klang. »Da kann ich dir die fünf Dollar auch gleich bar geben.«
Sie lachte nicht. Aber nur, weil sie wirklich nicht wusste, was er da gerade tat. Humor? Ein Ablenkungsmanöver? Scham?
Er funkelte sie ebenfalls an. »War nur ein Witz, Core.«
Core. Den Kosenamen hatte er bei ihrer zweiten Verabredung benutzt. Nachdem sie ein Semester lang dreimal die Woche bei dem Management-Seminar Stephens Flirtereien standgehalten hatte – hätte sich auf ihrem Tisch ein Tintenfass befunden, wäre es in seinen Haaren gelandet, die Sorte Flirt –, waren sie Freunde geworden. Kameraden. Als ob sie in benachbarten Häusern aufgewachsen wären. Alles war leicht. Die Gespräche. Das Lachen. Sogar die schweigsamen Momente.
»Ihr könnt euch von allem nehmen. Gratis. « Denn das war schon von jeher die Grundregel in der Küche der Del Reys.
Während Stephen und Thomas sich im Gästezimmer einrichteten, leerte Corina ihre Einkaufstaschen. Oreos, M&Ms, Weintrauben, Kirschen und kandierte Äpfel arrangierte sie auf der Kücheninsel. Das Wasser und die Cola light verstaute sie im Kühlschrank.
In ihrem Schlafzimmer schlüpfte sie in ein paar Shorts und ein Top. Erst jetzt wurde ihr klar, wie ihr Unterbewusstsein sie gesteuert hatte, als sie die Erdnuss-M&Ms in den Einkaufswagen gepackt hatte. Sie selbst bevorzugte die einfachen Schokolinsen. Aber die mit den Erdnüssen waren tatsächlich Stephens Lieblingssorte.
Während sie durch den Supermarkt geschlendert war, hatte sie überhaupt nicht über ihre Wahl nachgedacht.
Während ihres Flitterwochenmonats hatte Stephen pfundweise Erdnuss-M&Ms gegessen. So wirkte es jedenfalls.
»Kann ja sein, dass ich keine mehr bekomme, bis ich wieder zu Hause bin.«
»Ich werde dir jede Woche eine Tüte schicken, Schatz.«
»Versprochen?« Sein Kuss schmeckte nach Schokolade.
»Versprochen.«
Sie hatte Wort gehalten und war jede Woche beim Süßwarenladen vorbeigegangen, hatte eine große Tüte M&Ms gekauft und diese dann direkt zur Post gebracht. Das hatte sie mit solcher Regelmäßigkeit gemacht, dass am Ende die Postangestellte den Karton schon fertig adressiert und frankiert vorbereitet hatte, wenn Corina vorbeigekommen war.
Sie kam gleichzeitig mit Stephen wieder in der großen Wohnküche an. Eine starke Bö traf das Penthouse, als Corina die M&Ms in eine Kristallschale schüttete.
»Ich weiß noch, wie du mir damals jede Woche ein Paket M&Ms geschickt hast.«
»Ja, das hab ich gemacht.«
Stephen warf sich ein paar davon in den Mund und wirkte verloren, unentspannt. »Oh ja, Thomas schläft eine Runde.«
»Der kann bei dem Wind schlafen?«
»Er war bei einer Spezialeinheit in Afghanistan. Er kann bei Raketenlärm, Mörserkrach und Explosionen schlafen. Ich hab mal gesehen, wie er beim Strammstehen geschlafen hat.«
»Da hat er es aber gut.«
Ihre Blicke trafen sich, und Stephens Gebaren war demütig und zerknirscht. »Danke, dass wir kommen durften.«
»Hast du über meine Bitte nachgedacht?« Sie legte ein Schneidebrett bereit und wusch die Äpfel ab. Seine Gegenwart wurde ihr immer bewusster, immer wirklicher.
Sie war verheiratet . Jetzt, in diesem Moment. Mit ihm . Was machte man denn so als Mädchen, nachdem man einen Prinzen geheiratet hatte? Nachdem man der Liebe seines Lebens »Ja, ich will« zugesagt hatte?
In der Nähe der Balkontür gab es einen lauten Knall. Corina lehnte sich an der Spüle nach hinten, um zu entdecken, dass der Adirondackstuhl gegen das Glas geschleudert worden war. »Mist. Ich habe vergessen, die Balkonmöbel reinzuholen.«
Sie trocknete sich die Hände ab, aber Stephen war schon unterwegs, öffnete die Doppeltür zum Balkon und holte die Stühle und den klapprigen Pflanztopf mit dem moribunden Efeu herein.
»Muss sonst noch was in Ordnung gebracht werden?«, fragte er und sah sich suchend im Raum um.
»Das war alles. Danke, Stephen.«
»Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«
Ihre Blicke trafen sich. So wie jetzt war es noch nie zwischen ihnen gewesen – förmlich und unbeholfen. Nicht einmal, als er mit ihr geflirtet und sie ihn ignoriert hatte.
Zurück in der Küche, nahm sie sich ein Messer und begann, die Äpfel kleinzuschneiden. Die Aufgabe gab ihr ausreichend Deckung, um sich ihren Prinzen heimlich anzusehen. Sie wollte ihn küssen. Warum liebe ich dich immer noch?
Stephen wanderte mit einer weiteren Handvoll M&Ms in den Wohnbereich und sah aus dem Fenster, wo er im grauen Licht des Sturms stand. »Um deine Frage zu beantworten: Ich habe Nathaniel angerufen. Es gibt nichts zu erzählen. Dein Bruder ist in einem Feuergefecht ums Leben gekommen.«
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