Mühlheim, im September 2014
Erster Teil
SIMONE DE BEAUVOIR
I. Die vier Rollen Simone de Beauvoirs. Eine Würdigung
Sie wird am 9. Januar 1908 im Pariser Stadtteil Montparnasse geboren und stirbt am 14. April 1986 in demselben Viertel. Zwischen diesen beiden Daten spannt sich eine ungewöhnliche Biografie: atypisch für eine Frau der französischen Bourgeoisie ihrer Generation, für die Ehe und Mutterschaft das vorgezeichnete Lebensmuster waren. Infolge der Kriegsereignisse verliert die Familie ihr Vermögen. Ohne Mitgift ist eine standesgemäße Heirat nicht möglich. Simone de Beauvoir muss einen Beruf ergreifen, was sie als Frau gesellschaftlich deklassiert. Später erkennt sie, dass ihr nichts Besseres hätte passieren können.
Die konfessionellen Lehranstalten, an denen sie nach dem Besuch einer katholischen Privatschule Literatur und Mathematik studiert, stellen zumindest keine Gefahr für ihre Seele dar, aber dies ändert sich, als sie es durchsetzt, Philosophie an der Sorbonne zu belegen. Dass sie mit dieser Ausbildung zwangsläufig im laizistischen staatlichen Schulwesen unterrichten muss, ist für ihre katholischen Lehrerinnen noch schlimmer: Sie machen – so erinnert sich Beauvoir – kaum einen Unterschied zwischen einem Établissement d’État und einem Freudenhaus! Begierig, schnell unabhängig zu werden, überspringt sie ein Studienjahr. Als Spezialistin für Leibniz bereitet sie im Frühsommer 1929 den mündlichen Teil der Agrégation mit einer Gruppe Kommilitonen vor, zu der Sartre gehört, der ihr galanterweise ein Bild des Philosophen im Bade mit den Monaden überreichen lässt … Die Staatsprüfung in Philosophie ist die höchstangesehene in Frankreich. Sartre besteht sie als Erster, Beauvoir als Zweite. Diese Ränge bedeuten einen Ritterschlag in der Meritokratie, die mit der III. Republik in Frankreich Einzug gehalten hat. Beauvoir ist eine der ersten Frauen, die sich dieser Prüfung überhaupt unterziehen können.
Sie hätte gleich in den Schuldienst gehen können, nimmt sich aber zwei Jahre Auszeit, während Sartre seinen Militärdienst absolviert. Ab 1931 unterrichten beide Philosophie in den Abschlussklassen der Gymnasien, sie in Marseille, dann in Rouen, ab 1936 in Paris. Die Schule dient freilich nur dem Broterwerb. Für sie wie für Sartre gilt der fundamentale Lebensentwurf dem Schreiben. Während Sartre 1938 La Nausée veröffentlichen kann, muss Beauvoir länger warten, bis Gallimard 1943 ihren ersten Roman L’Invitée publiziert, mit dem sie gleich goncourtverdächtig wird. Frankreich ist ein besetztes Land. Das Erziehungswesen untersteht der Vichy-Regierung, die die Republik für die Niederlage verantwortlich macht und vorrevolutionäre Verhältnisse wiederherstellen will. Besonders die Lehrenden sind aufgefordert, den notwendigen Mentalitätswandel herbeizuführen, indem sie die republikanische Trias durch die Werte Arbeit – Familie – Vaterland ersetzen. Weder Sartre noch Beauvoir erscheinen dafür geeignet, was ihre Vorgesetzten richtig erkennen. Dass Beauvoir eine Minderjährige verführt hat, wessen man sie beschuldigt, kann zwar nicht bewiesen werden; dennoch wird sie unehrenhaft aus dem Schuldienst entlassen. Es reicht, dass sie unverheiratet mit einem Mann zusammenlebt, ihre Schülerinnen in die Psychoanalyse einführt und ihnen die Lektüre von Proust und Gide, die als dekadent gelten, empfiehlt. Sartre bleibt verschont.
Beauvoir schreibt vorübergehend für den Staatsrundfunk, vulgo »Radio-Vichy«, dem sie einige Features liefert. Nach der Befreiung von Paris im August 1944 kann sie von der Schriftstellerei leben, denn sie partizipiert an einem der ersten Medienereignisse der wiedererstandenen Republik, der sogenannten »invasion existentialiste«, deren Motor vor allem Sartre ist. Die Lancierung der Temps modernes, die Publikation mehrerer Romane, die wegen der Vichy-Zensur nicht veröffentlicht werden konnten, die Aufführung von Theaterstücken und der berühmte Vortrag »Der Existenzialismus ist ein Humanismus« innerhalb allerkürzester Zeit im Herbst 1945 machen den Existenzialismus zu einer intellektuellen Strömung, die schnell über die Grenzen Frankreichs hinaus wahrgenommen wird. Beauvoir begibt sich auf Vortragsreisen innerhalb und außerhalb Europas, um die Welt mit der neuen Bewegung bekanntzumachen, arbeitet intensiv mit an den Temps modernes, verfasst Essays, Romane und ihre Autobiografie, setzt sich für die Unabhängigkeit Algeriens ein und unterstützt durch Politreisen mit Sartre weltweit Befreiungsbewegungen. Die Autorität, die sie inzwischen als intellektuelle Instanz errungen hat, kommt in den 70er Jahren dem Kampf der Feministinnen zugute. Während Sartre bis zum Ende seines Lebens allen Institutionen gegenüber in einer Haltung der Verweigerung verharrt, unterstützt Beauvoir die sozialistische Regierung, die nach dem Wahlsieg 1981 ein Frauenministerium einrichtet. Als sie 1986 stirbt, folgen ihrem Sarg nicht nur Feministinnen aus aller Welt, sondern auch ehemalige Minister Mitterrands.
Die Nachrufe, die damals in der Pariser Presse erschienen, würdigen sie als Vorkämpferin des Feminismus, als Partnerin Sartres, als Linksintellektuelle und als Schriftstellerin, und zwar der Bedeutung nach in dieser Reihenfolge.2 Was kann man heute, 22 Jahre später, zu den einzelnen Rollen sagen?
Vorkämpferin des Feminismus
Simone de Beauvoir wurde nicht als Feministin geboren. Sie wurde auch nicht dazu gemacht, und dennoch wurde sie dazu. Schon sehr früh wollte sie über sich selbst schreiben und ging das Projekt als Philosophin systematisch an: Was hatte es für sie bedeutet, eine Frau zu sein? Aus der beabsichtigten Grundlegung der Autobiografie wird im Handumdrehen ein enzyklopädisches Werk, denn Beauvoir, die dank ihrer Ausbildung im republikanischen Frankreich als Frau selbst keine Nachteile hatte und von ihren Kommilitonen und Kollegen als völlig gleichrangig betrachtet wurde, stellt mit Erstaunen fest, dass die Welt, in der sie lebt, von Männern gemacht und mit Weiblichkeitsmythen bevölkert ist. Was die Gesellschaft unter »Frau« versteht, ist ein Konstrukt. In ihrer wie in Sartres Philosophie hat die Frau dagegen ebenso wenig wie andere Menschen eine feste Identität. Die Frau will sich in Freiheit verwirklichen, aber scheitert meistens daran, weil ihre Rolle in der Gesellschaft stärker festgelegt ist als die der Männer. Der Grund? Die Prokreation, die sie an die Immanenz fesselt, während die Männer ihre Situation überschreiten können. Nur, wenn die Frauen dieselben Bedingungen erhalten wie die Männer, können sie an der Transzendenz teilhaben. Beauvoir fordert daher 1949 im Deuxième Sexe Geburtenkontrolle (d. h. keine aufgezwungene, sondern bewusst gewählte Mutterschaft) und Teilnahme der Frauen an der Erwerbsarbeit (d. h. ökonomische Unabhängigkeit). Dass sich die Wirklichkeit in den fast 60 Jahren danach in dieser Richtung entwickelt hat, zeigt die Richtigkeit ihrer Diagnose, auch wenn eine selbsternannte Avantgarde – in Deutschland übrigens mit 30-jähriger Verspätung gegenüber Frankreich – versucht, der Differenz zuungunsten der Gleichheit zu Prestige zu verhelfen.3
Dass Le Deuxième Sexe sehr schnell bekannt wurde, liegt nicht nur am Existenzialismus-Boom, sondern auch an dem Skandal, den das Werk 1949 erregte, nachdem das Kapitel über die sexuelle Initiation der Frau in der Mai-Nummer der Temps modernes vorveröffentlicht worden war. Beauvoir beschreibt mit klinischer Genauigkeit einen Koitus, so dass ab der 2. Seite der Zeitschrift, die den Intellektuellen neue Wege weisen wollte, von der »Sensibilität der Vagina«, den »Zuckungen der Klitoris« und dem »männlichen Orgasmus« die Rede ist. François Mauriac, der katholische Leitartikler des Figaro, startet eine Meinungsumfrage unter den jungen Intellektuellen: Führt das Eindringen der »Erotik« in die Literatur die Nation nicht an den Rand des Abgrunds? Die Debatte um Beauvoirs Werk, das der erste Schritt war zu ihrer Autonomie als Schriftstellerin unabhängig von der Gruppe der Existenzialisten, füllte monatelang die Gazetten:4 Dank der Phänomenologie waren Gegenstände wie der Körper und Themen wie Sexualität diskursfähig geworden, jedenfalls bei jungen Intellektuellen, die die katholische Prüderie hinter sich gelassen hatten. Das Buch wurde sofort von einem amerikanischen Verlag übersetzt. Über die Rezeption von Feministinnen wie Betty Friedan und Kate Millett, die den Feminismus weltweit verbreiteten, haben die Ideen Beauvoirs dann unerkannt den Planeten erobert und über die französischen Übersetzungen der Schriften der Amerikanerinnen auch nach Frankreich zurückgefunden.5
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