Bordcomputer des Explorers Dorset I; Logbuch des Kommandanten:
Wir haben das innere System verlassen und durchschneiden die Bahn des Saturn an einer Stelle, die der bereifte Planet in einem Jahr innehaben wird. Die Leibniz, nach wie vor im Uranusorbit geparkt, wo sie für eine neue interstellare Mission überholt wird, steht auf einer Position von 150°, mehrere Milliarden Kilometer entfernt. Die Erde befindet sich gegenwärtig hinter der Sonne, was den Funkverkehr entschieden verspärlicht. Die Kommunikation wird über die Relais der Marsbasen aufrechterhalten. Aber die zuständigen Behörden von Luna III scheinen seit Monaten das Interesse für uns eingebüßt und uns dem Vergessen überantwortet zu haben. Am besten beginne ich damit, die Ereignisse nachzutragen, die seit unserem Abkoppeln von dem sonderbaren und bis zuletzt unerklärlichen Objekt, genannt »Das Opak«, und dessen bald darauf erfolgendem Verschwinden vorgefallen sind.
Wir hatten das Objekt, das wir nicht mehr sonnenwärts begleiten konnten, verlassen und die Dorset auf Venushöhe zurückgenommen. Da kein Einsatzplan vorlag und alle übergeordneten Stellen anscheinend die Zuständigkeit für uns verloren hatten, dümpelten wir in einem ausgreifenden Orbit um den weiß-blauen Planeten, dessen Schwefelgewitter und Seen aus kochendem Blei harmlos und jeder Aufmerksamkeit entbehrend unter uns brodelten. Von dem unerwarteten Sichauflösen des rätselhaften Phänomens – das die meisten von uns im Nachhinein für konsequent und beruhigend erklärten – der Beschäftigungslosigkeit anheimgegeben, verbrachten wir mehrere Wochen damit, das lädierte Schiff zu überholen. Vor allem im Drohnendeck gab es unendlich viel zu tun, da wir die meisten der ausgesetzten Robotsonden vor unserem Ablegen in den Hangar zurückbeordert, dort aber zunächst nur notdürftig verstaut hatten. Hier gingen wir nun daran, die kostspieligen und nutzlosen Instrumente zu warten und in angemessener Weise zu vertäuen. Gus fehlte uns, da wir nicht nur seinen Sachverstand kaum ersetzen konnten, sondern vor allem auch seinen zupackenden Trotz entbehrten.
Die Arbeiten näherten sich dem Ende, als wir von Luna III aus dem Behagen geschrillt wurden. Das Opak war jenseits der Sonne, aber auf einer Bahn, die die vor einigen Monaten abgebrochene exakt fortsetzte, wieder aufgetaucht. Offensichtlich hatte es unseren Zentralstern in einer Art von Verpuppungszustand durchquert und sich nun auf einer merkurnahen Position, die spiegelbildlich der Koordinate des Verschwindens entsprach, wieder enttarnt und strebte in ansonsten unverändertem Habitus von der Sonne weg. Es war wohl in einer gewissen Verlegenheit der zentralen Beobachtungsstation begründet, die nicht so recht zu wissen schien, was sie mit uns anfangen sollte, aber man reaktivierte uns und übermittelte einen neuen Marschbefehl, der darauf hinauslief, die Verfolgung des Phänomens aufzunehmen und die Observierung fortzusetzen.
Da das Opak mittlerweile nicht nur einen Vorsprung von etlichen hundert Millionen Kilometern gewonnen hatte, sondern sich jenseits der Sonne befand, die wir nun nicht mit der gleichen Indolenz durchtunneln konnten, wurde ein aufwendiges Manöver nötig, dessen Berechnung die Erste Offizierin und den Chefprogrammierer mehrere Tage kostete. Die Dorset musste die Sonne umrunden und das Objekt, das dann bereits die Marsbahn hinter sich gelassen haben würde, auf einem komplizierten, mehrfach gekrümmten Kurs in einigen Monaten einholen. Es wurde daher beschlossen, das Schiff von der Automatik steuern zu lassen, überwacht von den Stationen Luna II und III, und die Crew dem Tiefschlaf zu überantworten.
Nachdem die erforderlichen Sequenzen eingegeben waren, gaben wir mehrere Minuten vollen Schub aus dem Photonentriebwerk und nahmen Kurs auf die Erde, die wir in großem Abstand umrunden würden. Dann war eine Rückkehr zur Venus vorgesehen, wo uns ein neuerlicher Swing-by auf eine hyperbolische Bahn um die Sonne und zum Rendezvous jenseits der Marsbahn katapultieren würde.
Die Zweite Offizierin suchte unmittelbar nach der Startphase die sensorielle Koje auf. Einen Tag später zog sich die Erste Offizierin zum Tiefschlaf zurück, und schließlich ließ sich auch der Kommandant auf 27 °C herunterkühlen. Das Schiff war auf Kurs; der Chefprogrammierer, das vierte noch lebende Besatzungsmitglied, blieb auf eigenen Wunsch wach. In stoischem Schweigen beschrieb die Dorset die ineinander verschachtelten Kegelschnitte, die es in streng ballistischen Webmustern hin und her warfen, beschleunigten und dem Bestimmungsort zudirigierten.
Die Weckautomatik kippte mich mit dem Zartgefühl eines Müllkutschers in die Realität zurück. Ich kam mit der vertrauten Unbeholfenheit zu mir. Ich betrachtete die Anzeige vor meiner vertrockneten Nase und stellte fest, dass ich fast zwei Wochen vor dem programmierten Termin aus dem Tiefschlaf zurückgeholt worden war. Nachdem ich meinen Personalcode auf die Innenseite des Sichtfensters getippt hatte, öffnete sich der Sargdeckel, wie die Kojenklappe im Jargon genannt wurde, und ich klomm heraus. Niemand erschien, um mir bei der Reanimation meiner unterkühlten Knochen zu helfen, dennoch brauchte ich eine Weile, um mich zu wundern.
»Warum wurde ich geweckt?«
Im gleichen Augenblick wusste ich, was passiert war. Es gab nur eine Möglichkeit, nur eine logische Erklärung.
»Mortales Ereignis in Sektor C«, verkündete die Maschinenstimme in schmeichelhafter Kälte.
Ich zog den komischen Schlafanzug aus, in dem man während des Schlafes vor sich hin rottet, und wankte in den Wohntrakt hinaus. Im Kopf war ich absolut klar und voll trauriger Nüchternheit.
»Wer hat dich diesen absurden und geschmacklosen Ausdruck gelehrt?«
Ich erkundigte mich ohne Neugier, bekam aber prompt und ohne erkennbare Irritation den Namen eines besonders unsympathischen Systemingenieurs der Leibniz geliefert.
Silesio lag angezogen auf seinem Bett, mit geschlossenen Augen auf dem Rücken ausgestreckt, ein trügerisches Lächeln um den erkalteten Mund. Das silberne Röhrchen auf dem kleinen Nachttisch verriet, warum er keine Schmerzen gelitten hatte. Der Tod musste vor mehreren Stunden eingetreten sein. Bis die Automatik seine Routinemeldungen vermisste und mich langsam auftaute, war der Leichnam zu wächserner Steife erstarrt. Ich setzte mich nackt, wie ich war, neben den Toten auf das abgedeckte Bett und faltete gedankenlos seine störrischen Hände ineinander. Dann fiel mein Blick auf die speckige Kladde. Ich teile hier den vollständigen Text des handschriftlichen Testamentes mit.
Silesios letzter Wille …
Ich attestiere mir hiermit selbst, dass ich bei geistiger Gesundheit und unbedingt zurechnungsfähig bin. Mein körperlicher Zustand ist zerrüttet und in wenigen Stunden wird eine gnädige Dosis des Opiats, das seit Langem mein täglicher Begleiter ist, meiner physischen Existenz ein Ende setzen.
Es ist ein Jahr her, seit die medizinische Automatik an Bord der Leibniz anhand meiner Blutwerte die Diagnose stellte, und damals hätte ich nicht gedacht, dass mir nicht nur von der Zeitspanne her, sondern auch was die Erlebnisdichte angeht, noch solche Fülle an Leben, ja die eigentliche Erfüllung meiner Existenz bevorstünde. Es gelang mir, die Erkrankung geheim zu halten, indem ich sämtliche Meldungen der Software unterdrückte. Ich begab mich auf den Explorer Dorset, um das Mutterschiff und sein dichtes Überwachungsnetz verlassen zu können. Kaum habe ich damals geahnt, welcher geistigen Intensität ich mich dadurch noch einmal aufschloss und wie der Tod mich so der letzten Sinngebung meines Lebens entgegenschickte. Erst allmählich, während vieler Wochen der größtenteils einsamen Meditation, begriff ich die Bedeutung des Phänomens, dessen Erkundung unsere Mission galt. Obwohl ein weiteres Rendezvous kurz bevorsteht, welches ich nicht mehr erleben werde, zweifle ich nicht daran, dass diese zweite Observierung in wissenschaftlicher Hinsicht genauso ergebnislos verlaufen wird wie die hinter uns liegende. Umgekehrt war die subjektive Erfahrung der Begegnung mit dem sogenannten Opak das zentrale Erlebnis meiner 126 irdischen Jahre.
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