Ulfried Schramm
DER ZUG HÄLT NICHT IN PASEWALK
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Aquarelle © Ulfried Schramm
(Ohne Titel, Aquarellfarbe, Kreide, Senfsoße, Kaffee, rote Beetesaft)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel Ulfried Schramm DER ZUG HÄLT NICHT IN PASEWALK Engelsdorfer Verlag Leipzig 2015
Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Aquarelle © Ulfried Schramm (Ohne Titel, Aquarellfarbe, Kreide, Senfsoße, Kaffee, rote Beetesaft) Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015 www.engelsdorfer-verlag.de
Der Zug hält nicht in Pasewalk oder Kaffee mit Salamibrötchen
Der Birkenbusch
Wismutkumpel
Das Segelschiff
Tucho
Der Bumerang
Tauwetter
Das Fotomodell
Der lange Weg nach Alt-Reddewitz
Summertime
Der vorzeitige Weihnachtsabend
Sekt
Die Bodenkammer
Ein Kleiber zum Anfassen
Die Schlange im Gras
Die Tür zum Bad
Im Rübenkeller
Ein Engel im Winter
Eine Sommergeschichte
Fußnote
Der Zug hält nicht in Pasewalk oder Kaffee mit Salamibrötchen
Das Dorf in der Uckermark hatte eine kleine Bahnstation. Dorthin gelangte man über eine gewundene Kopfsteinpflasterstraße, die an Wiesen und Feldern entlangführte. Für trockene Monate gab es daneben einen Sommerweg. Es war ein glatter Sandweg, gut für nackte Füße, Räder und Pferdehufe.
Am Bahnhof war Kahlisch im Spätsommer angekommen.
Jetzt lag der Schnee schon lange auf den Feldern. Die Fernstraße hatte eine geschlossene Schneedecke. Der Frost blieb am Tag und in der Nacht. Die Natur war in der Starre.
Es war Kahlischs erster Winter, den er hier erlebte. Er arbeitete als Neulehrer im Nachbardorf.
Er benutzte den Schulbus, hatte ein warmes Mittagessen und eine Menge Arbeit in der Schule.
In dem Zimmer oben an der Giebelseite der alten Schule war er zu Hause. Er hatte einen altertümlichen Kachelofen, der noch ganz gut heizte. Kahlisch wohnte in dem ungenutzten Schulgebäude ganz allein. Allein, mit zwei Klassenräumen im Erdgeschoss, einer kleinen Schulküche nebenan und einem Trockenklo auf dem Schulhof. Kahlisch fühlte sich wohl im Haus, weil er schalten und walten konnte, wie es ihm gefiel, und weil er genügend Ruhe hatte, seine Schulaufgaben vorzubereiten. Im Nachbarort war das Schulhaus größer und alle acht Klassen hatten ihr eigenes Klassenzimmer. Kahlisch galt nach dem halben Jahr Lehrertätigkeit noch als Neuling.
Wenn er in seiner Klasse unterrichtete, gab es stets Beobachter, die seine Arbeit bewerteten. Kahlisch wollte das nicht. Die Beobachter waren für ihn Eindringlinge, die das Zusammenspiel mit ihm und seiner Klasse störten. Er wollte sich ausprobieren, wollte seine pädagogischen Fähigkeiten spüren, wollte mit den Kindern wachsen.
Anfang Januar hatte er einen Lehrgang und seine Kollegin A. ebenfalls.
Beide waren als Absolventen eines Lehrerstudiums hier in der Provinz gelandet. Kahlisch und sie hatten unterschiedliche Vorstellungen von der Arbeit auf dem Land. Für A. war es die Arbeit auf Lebenszeit und Kahlisch würde nicht länger als nötig bleiben. Nach dem Winter wollte er sich etwas in der Stadt suchen. Den jetzigen Lehrgang sah er als eine willkommene Abwechslung im immer gleichen Tagesablauf. Bei der Planung für diese Weiterbildung vereinbarten beide die gemeinsame Reisezeit, mitten im kalten Winter.
Kahlisch ging kurz nach 6.00 Uhr zum Bahnhof und fror. Der Zug kam, doch die Kollegin A. fehlte. Weil sie nicht weit vom Bahnhof wohnte, holte er sie ab, stand in ihrer Küche herum und wartete, bis sie reisefertig war. Sie hatte ausgerechnet heute verschlafen. Kahlisch sah durch die Milchglasscheibe der Küchentür, wie sie sich anzog und zurechtmachte.
Dieser Zug hält nicht in Pasewalk, sagte der Mann mit der roten Mütze, als sie einstiegen. Sie hatten auf einen anderen Zug gewartet, der in die gleiche Richtung fuhr.
In den Abteilen war es voll. Sie liefen im fahrenden Zug und suchten zwei Plätze, saßen sich dann am Fenster gegenüber und hatten die Füße auf der Heizung. Der Schnee taute, lief über die Heizungsrohre und verdampfte. Ein säuerlicher Eisengeruch stieg nach oben. Kahlisch wischte am beschlagenen Fenster. Draußen war es noch Nacht. Der Zug ratterte und hüllte sich in Dampf.
Kahlisch malte für seine Kollegin eine dampfende Tasse Kaffee und zwei Brötchen an die beschlagene Fensterscheibe. A. lächelte und nickte ihm zu.
Plötzlich hielt der Zug in Pasewalk. Lokwechsel, Enteisung der Waggons, alles aussteigen, die Leute liefen in weißen Dampfwolken über den Bahnsteig. Eisiger Wind. Heute ist alles anders, sagte Kahlisch zu seiner Kollegin und führte sie in den Wartesaal mit Imbissecke. An quadratischen Tischen konnte man Platz nehmen. Neonlicht beleuchtete die Glasvitrine mit dem Frühstücksangebot. Daneben war ein Kaffeeausschank. Die Reisenden belegten Stühle und Tische. Bald war der Wartesaal mit Menschen gefüllt, dicke Wintersachen hingen über den Stühlen, Taschen standen auf dem Boden, Zeitungen wurden aufgeschlagen und Kaffeeduft zog durch den Raum, Papier knisterte. Die Leute unterhielten sich gedämpft. Es war zeitiger Morgen, Geschirr klapperte, ein Kind weinte.
Kahlisch hatte einen freien Tisch gefunden, an dem er und seine Kollegin Platz nahmen. Sie sprachen wenig miteinander, schauten sich im Raum um und gingen zum Kaffeeausschank. Sie kauften zwei Salamibrötchen aus der Vitrine und der gebrühte Kaffee stand schon bereit. Am Tisch lächelte A. wieder und nickte Kahlisch zu. Er biss mit außergewöhnlichem Appetit in das Brötchen und nickte mit vollem Mund zurück. Schweigend waren sie bei ihrer Morgenmahlzeit. Sie waren mit sich, dem Kaffee und dem Brötchen mit der rutschenden Salamischeibe beschäftigt.
Kahlisch genoss den Augenblick, schaute auf seine Kollegin und verspürte ein unergründliches Glück in diesem Wartesaal, mitten in Pasewalk.
Im Lehrgang waren sie getrennt. A. bildete sich künstlerisch weiter und Kahlisch wollte seine Französischkenntnisse verbessern.
Die Stadt, in der sie jetzt waren, kannte Kahlisch gut. Ein Freund von ihm, ein Theologiestudent, lebte hier.
An einem Abend saßen Kahlisch und seine Kollegin A. in einem Weinausschank und führten ihr erstes vertrautes Gespräch. Während sie sprach, schaute sie ihn offen an und er erkannte ihre äußere Schönheit im Kerzenlicht.
Kahlisch machte Fotos. Er durfte. Er sah lange auf ihre blonden, schulterlangen Haare und löste die Kamera ruhig aus. Sie sprach nicht viel dabei.
Kahlisch erklärte die Mechanik des Fotoapparates und die Verarbeitungstechnik zu einem Schwarzweißfoto und wie ihr tiefblaues Folklorekleid bei dieser Kerzenbeleuchtung später auf dem Foto aussehen würde, ziemlich dunkelgrau, hm, dafür leuchteten die roten Ornamente schön hell. Sie lachten über die Technik.
Auf der Rückreise saß A. eng an Kahlisch angeschmiegt und hatte den Kopf an seine Schulter gelegt. Kahlisch las in einem Prospekt, denn die neue Vertrautheit mit A. verunsicherte ihn hier im Zugabteil.
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