Von diesen beiden Ausgangspunkten trennten sich die Bande der Vertriebenen: Die eine Gruppe wurde in Bayern sesshaft, wo schon die vorher freiwillig Ausgereisten lebten, der meinige war in Sachsen angelandet, letztendlich in der Oberlausitz.
Nach kurzen, aber wirkungsvollen Reibereien mit den alteingesessenen sächsischen „Platzhirschen“ verschafften sich die Neuankömmlinge schnell Respekt und Achtung. Dabei flogen auch schon mal die Fäuste. Eine Ohrfeige aus der Hand eines meiner Onkel konnte da durchaus einen gebrochenen Unterkiefer zur Folge haben. So viel dazu. Wie gesagt: Es waren zum Teil recht wirkungsvolle Auseinandersetzungen.
Seit dieser Zeit leben sie nun in großer Zahl, Familie, Verwandte und Bekannte, friedlich zusammen mit den Sachsen, mit den ebenfalls nach Kriegsende ausgesiedelten Schlesiern und mit denen, die noch so alle vertrieben wurden und in der landschaftlich idyllischen Oberlausitz dann eine neue Heimat fanden.
Die Mehrzahl der Ungarndeutschen hatte es binnen weniger Jahre erneut zu einem eigenen Haus gebracht und arrangierte sich nun mit dem gegebenen Umstand, dass sie nie mehr in ihre alte Heimat zurückkehren würden. War ja alles weg, wohin also? Wohl oder übel – sie blieben da.
„MAGUELA“ UND BEIM FRISÖR
Viel Neumodisches gab es für die Ankömmlinge in Sachsen zu erkunden. Wenn man vom Dorf in eine kleine Stadt kommt, hat das ein anderes Flair. Es gab im direkten Vergleich zu Rossbrunn erheblich mehr: zwei Kirchen, zwei Schulen, zwei Marktplätze mit zahlreichen Geschäften, mehrere Bäckereien und diverse Fleischer, wenigstens sechs größere Betriebe, eine Reihe an Gasthäusern und Bierstuben, Frisöre, die Polizeistation und, und, und … Sogar einen Entblößer, allerdings erst etwas später, zu meiner Kinderzeit.
Und da gab es auch ein paar Termini, die nur die Ungarndeutschen erfinden konnten oder in ihrer neuen Heimat ihrem Wissensstand entsprechend deuteten:
Sör nennt man in Ungarn bekanntlich das Bier. Da prangte doch auf dem Markt an einem Haus das Schild „Frisör“. Was kombinierte daraus einer der cleveren älteren Landsleute: Sör heißt Bier und die Silbe „Fri“ kann ja nur „frisch“ bedeuten. Sein Fazit: Hier gibt es „frisches Bier“. Er holte seinen Bierkrug von zu Hause und marschierte damit schnurstracks zum – Frisör.
Die Großmutter meines Cousins stritt sich im Lebensmittelladen bis aufs Messer mit einer Verkäuferin um „Maguela“. „Maguela“ kaufe sie immer hier und die Geschäftsfrau antwortete, dass es in dem Laden noch nie „Maguela“ gegeben hätte.
„Dees giabt’s jo neet“, wetterte die Oma, sie bestand auf dem Zeug, sie hatte es hier gekauft und wollte es haben!
Was um Himmels willen sollte das denn sein, „Maguela“?
Sie versuchte es der Verkäuferin in ihrem Slang zu erklären: „A schwoaza Schnops“ – ein schwarzer Schnaps.
„Gibt’s nicht“, war die hilflose Antwort.
Beide waren kurz vorm Verzweifeln. Das Muttchen wurde langsam böse, da sie annahm, man wolle ihr ihren Lieblingsfusel absichtlich vorenthalten. Sie wedelte schon mit ihrem Gehstock herum. Bis die Inhaberin selbst in den Verkaufsraum kam und sofort wusste, was die alte Dame immer kaufte: einen Likör, nicht „Maguela“, sondern „Mocca Edel“.
Für solche und viele weitere Amüsements sorgten die neuen Mitbewohner schon ab und an. Wenn wir als Kinder und Heranwachsende – bei welcher Gelegenheit auch immer – solchen Erzählungen lauschen durften, tat einem gelegentlich schon das Gesicht weh wegen des vielen Lachens.
Erst viel später sah man in Ungarn ein, welch fataler, großer Fehler mit der Vertreibung begangen worden war. Nach dem Zerfall des Ostblockes. Zu spät. Viele der Betroffenen waren verstorben.
Mein Großvater erhielt eine „großzügige“ Entschädigung für Haus, Hof, Stallungen, Pferde, Vieh und einige Hektar Land: satte zweitausend DM. Er wusste vor Schreck gar nicht, wohin mit soooo viel Geld.
Ein anderer Ungar hat – mit Zeitverzögerung – Ende der achtziger Jahre viel gut gemacht: Gyula Horn, der damalige Ministerpräsident, hatte es erkannt, als er am 27. Juni 1989 Seite an Seite mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock der pervertierten Sozialismuskreatur den Hals durchschnitt: besser gesagt, den Stacheldraht an der Grenze zwischen diesen beiden Nachbarländern.
Das war ein „Dolchstoß“ in Erich Honeckers Herz, trotz alledem hatte dieser selbst im August 1989 noch solche Geistesblitze geäußert wie: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Selbst bei seinem „Abschiedssingsang“ am 7. Oktober 1989 träumte er von seiner hundertjährigen Mauer, als ihm Gorbatschow das geschichtliche Bein in den Weg stellte.
Aber gut, dazu später mehr. Erst mal zurück ins Jahr 1962.
Es war so weit: Ich war da. Beim Erblicken des Lichtes der Welt konnte ich nicht mal ahnen, was mir die folgenden mehr oder weniger interessanten Jahre meines Erdendaseins bieten würden. Wie sollte ich auch?!
Ein Fakt: Ich war als Baby intelligent und gelehrig. Ich konnte mir schnell das Zukacken der Windeln verkneifen, habe dadurch meiner Mutter viel Kocherei erspart (es gab noch keine Pampers) und war zügig auf den Beinen. Ja, verdammt war ich gut.
Freilich kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie es war, aus der Flasche zu nuckeln, an ein paar andere Begebenheiten meiner Kinderzeit schon: Wie beispielsweise an Wendelbácsi (man spricht: Wendelbatschi), so nannten wir unseren nicht aus der direkten Verwandtschaft stammenden „Onkel“ Wendelin mit ebenfalls ungarndeutscher Herkunft. Ein paarmal im Jahr kam er zu uns und verschwand dann mit meinem Opa in der riesigen Holzscheune, die auf unserem Grundstück stand. Ich vermutete, dass er mit unseren Kaninchen spielte. Es war ein lustiges Gequietsche zu hören – Babys geben ähnliche Laute von sich, wenn man sie kitzelt.
Erst später dachte ich über die dumpfen Schläge zwischen dem Gequietsche intensiver nach. Und als ich rein zufällig in den Schuppen blickte, hatte Wendelbácsi ein Messer in der Hand, das arme Tier an den Hinterpfoten aufgehängt und ihm bereits das Kuschelfell abgezogen. Es war eigenartig und gruselig und ich dachte mir: Das sieht nicht gut aus! Seltsame Spiele kennen die Erwachsenen.
Abgesehen davon war er jedoch ein guter Mensch, besonders zu uns Kindern. Bei ihm und seiner Frau, Tante Aranka, gab’s für uns immer was zu essen, zu trinken oder zu naschen: Bongsel (= Bonbons).
Wie alle anderen richtigen Jungs vergnügten wir uns gern und viel mit den unterschiedlichsten Objekten. Man konnte mit allem spielen, vorausgesetzt, man nutzte seine Fantasie. Wer sich an die sechziger Jahre erinnern kann, wird ahnen, dass sich die uns zur Verfügung gestandenen Utensilien doch erheblich von den neuzeitlichen Spielzeugen unterschieden. Man musste einfach kreativ sein.
Und in unserer gewaltigen Scheune fanden sich Unmengen an irgendwelchem Zeug, das wir als Kinder gebrauchen konnten. Von einigen Gegenständen sollte man zwar besser seine Finger lassen, denn dort stand alles rum, angefangen von der Axt bis zur messerscharfen Sense, eben alles – früher wurde so was nur wegen der Kinder nicht weggeräumt. Und wenn es noch so verrostet oder seltsam war, für irgendetwas war es nützlich.
So setzten wir zum Beispiel auch die kleinen Hacken ein, die meine Oma normalerweise auf dem Friedhof verwendete oder damit Gemüsebeete im Garten bearbeitete. Dass solche Dreizack-Häckchen beim Spielen mit den Plastikindianern im Sandhaufen mal auf den Kopf des besten Kumpels wanderten, bis das Blut kam (jawohl – wir waren so was wie Blutsbrüder), konnte man nicht ausschließen. Da war der Ärger seitens unserer Eltern schon mal vorprogrammiert. War aber alles halb so wild. Wie heißt es so schön: Pack schlägt sich – Pack verträgt sich.
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