Ich fragte nach dem Fischfang in Englisch. Durch das Meerrauschen hatte er mich missverstanden, dachte, ich spreche russisch.
Ich sagte ihm, dass ich in Englisch nach dem Fischfang gefragt habe.
Er verstand und sagte, dass sie noch keine Fische heute gefangen hätten. Dann unterhielten sich beide Angler hebräisch weiter. Vielleicht hielten sie mich immer noch für einen Russen.
Ich wandelte durch die Straßen Tel Avivs. Ich begegnete Männern mit Kippa und erstmalig einem Juden mit Schläfenlocken. Schläfenlocken trägt ein Großteil der ultraorthodoxen Juden. Ja, es ist Schabbat und irgendwo müssen doch da auch Synagogen sein, wo jetzt Gottesdienste stattfinden. Auf einem Spielplatz fragte ich zwei junge Frauen, die bei ihren spielenden Kindern saßen, nach einer Synagoge. Sie beschrieben mir den Weg zur nächsten Synagoge. Beide waren vor einigen Jahren aus den USA eingewandert.
Vor der Synagoge zog ich meine Jacke zur Bedeckung meiner Arme an, trat in den Vorraum, bedeckte mein Haupt mit einer ausliegenden Papp-Kippa und setzte mich gleich rechts in die Ecke des Saales. Ungefähr 30 Männer beteten gemeinsam. Schläfenlocken hatte hier keiner. Die Umrisse von etwa 10 sitzenden Frauen sah ich im linken Drittel des Saales, der durch eine Gardine abgetrennt war. Von einigen Männern wurde ich skeptisch gemustert.
Meine Papp-Kippa hielt nicht und fiel hinten runter. Oh Gott, habe ich jetzt das heilige Haus entweiht, dachte ich. Ich hob die Kippa auf und zog sie etwas nach vorn, auf dass sie dort wohl verweile.
Wie ich später mitbekam, fixieren einige ihre Kippa mit einer Haarspange und normale Stoff-Kippot (Mehrzahl von Kippa) saugen sich auch etwas am Hinterkopf fest.
Ein Mann kam herein und nickte mir freundlich zu.
Unter gemeinsamen Gesängen wurde die Torarolle durch die Synagoge getragen und auf dem Lesepult ausgerollt. Die Gläubigen hatten alle Gebetsbücher vor sich, machten ab und an Nickbewegungen zum Gebet oder liefen dabei kurz auf der Stelle. Zwischendurch standen sie auf. Ich als Besucher blieb sitzen, ich hoffte, das war okay.
Die wacklige Kippa fiel mir zum vierten Mal runter, ich ging in den Vorraum und wollte schauen, ob da vielleicht Haarklammern rumliegen. Ich fand nichts. Der Rabbi winkte mich von drinnen freundlich lächelnd zu sich, ich traute mich ohne Kopfbedeckung nicht in das Innere der Synagoge. Er kam mir entgegen und gab mir einen Gebetsschal.
Ich sagte ihm, dass mir die Kippa laufend runterfällt. Leider hätte er keine andere. Damit die Kippa nicht gleich wieder runterfällt, rückte ich sie weiter nach vorn auf meinem Haupt – etwas „unorthodox“, da ja die Kippa auf dem Hinterhaupt getragen wird.
Wie die anderen schlang ich mir den Gebetsschal um die Schultern. Als Kind legte ich mir die Bettdecke oft um die Schultern und lief so abends durch die Wohnung. Meine Mutter amüsierte sich immer darüber. Für mich hatte der Umhang, etwas von zu Hause sein – wohl für die Juden etwas von zu Hause sein bei ihrem Gott. Zur Verstärkung ziehen einige auch den Umhang über den Kopf beim Gebet.
Ein Mann betete sehr laut vor und die anderen beteten nach. Vielleicht hinkt der Vergleich aus jüdischer Sicht, nach meinem Gefühl bestand eine gewisse Ähnlichkeit zu einem schier brüllenden Muezzin.
Wohl weil er mitbekam, dass auch Ausländer im Saal sind, sprach der Rabbi einige Worte Englisch. Man solle sich zusammensetzen. Der Mann, der mir beim Hereinkommen freundlich zunickte, setzte sich zu einem anderen. Sie unterhielten sich ab und an in englischer Sprache. Wie ich mitbekam, ist dieser Mann aus den USA und in Tel Aviv nur besuchsweise.
Es kamen auch zwei Männer mit Basecap. Das Wichtigste ist, dass der Kopf bedeckt ist. Zur Not kann man in der Synagoge sein Haupt mit einem Bascap anstelle einer Kippa bedecken.
Bis dahin moderierte der Rabbi den Gottesdienst. Nun übernahm ein anderer Mann und rief mich nach vorn. Ich schaute verlegen, wollte schon ausholen und sagen, dass ich ein atheistischer Tourist sei.
„Sind Sie Jude?“, rief der Mann quer durch die Synagoge.
Ich: „Nein.“
Wortwörtlich er sofort darauf: „Aah.“
Er rief einen anderen vor. Sie hielten mich wohl alle für einen Juden. Nun war ich gar kein Jude. Waren Sie enttäuscht? Ein anderer wurde vor gerufen. Mir reichte es zunächst als erster Eindruck, ich ging. Im Vorraum saß ein anderer Mann mit Basecap, las in einem Buch – wahrscheinlich ein Gebetsbuch – und nickte mir freundlich zu.
Wie ich später herausfand, werden beim Samstagmorgen-Gottesdienst in vielen Gemeinden im Anschluss an die Tora-Lesung Anwesende aufgerufen und erhalten eine besondere Segnung – ein Mi Sheberach, in der neben ihrem Namen auch Familienangehöriger oder Kranker gedacht werden kann.
Ich erinnere mich an unsere Kalifornien-Reise vor vier Jahren, mein allerliebster Schatz. Außer einem beginnenden Muskelabbau an den Händen strotztest du vor Gesundheit. Die Diagnostik deiner Krankheit lief erst an. Wir dachten beide, dass sich die Sache klären wird und wir gemeinsam mit unserer herrlichen Affenliebe hornalt werden.
Wir besuchten im ländlichen Kalifornien den Sonntagsgottesdienst einer kleinen christlichen freien Gemeinde. Einzelne Gemeindemitglieder erzählten von Angehörigen, die krank oder bei der Armee im Auslandseinsatz waren. Am Ende gedachte die ganze Gemeinde derer und hoffte auf Gottes Hilfe. Das war also ähnlich.
Nun ist es 12:35 Uhr, ab geht’s ins Quartier zum Mittagsschläfchen. Ab 13:00 Uhr kann ich rein. Ich hoffe, ich finde nach ein bis zwei Stunden Ruhe wieder raus aus dem Bett, um abends zur normalen Schlafenszeit die nötige Bettschwere wieder zu haben.
Ich habe jetzt schon die Schnauze voll. Das Quartier hat mir den Rest gegeben. Ich klingelte an der Tür des Hostels. Ein sehr grimmig dreinschauender, dünner, ungefähr 60jähriger Jude mit Kippa öffnete mir mit einem wütenden Murren. Ich sagte, dass ich gebucht hätte, zeigte auf meinen Rucksack in der Ecke. Er fluchte nochmals hebräisch, deutete an, dass ich meinen Rucksack nehmen und abhauen solle und ging in ein Zimmer. Ich dachte, er wäre der Eigentümer des Hostels und ich hätte gerade die Schabbatruhe gestört. Der palästinensische Hotelangestellte, bei dem ich in der Nacht eincheckte war nicht da. Ich schnappte meinen Rucksack und öffnete mit dem mir bekannten Code 555 die andere Eingangstür des Hostels in der Hoffnung, Personal zu finden, das mir mein Bett zuweist. Drinnen bezog in einem Zimmer eine schwarze Putzfrau Betten. Sie sprach kein Englisch. Im ganzen Haus traf ich keinen anderen Menschen an.
Draußen setzte ich mich erst mal auf die Bank und rauchte eine. Schöne Scheiße, ich wollte endlich das Quartier beziehen, schlafen und jetzt das. Die Schabbatruhe des vermeintlichen jüdischen Besitzers wollte ich aber auch nicht stören. Trotzdem: die müssen doch eine Macke haben, schließlich habe ich bezahlt!
Entschlossen betrat ich das Hostel erneut, zeigte der schwarzen Putzfrau den Beleg, dass ich bezahlt habe und sagte ihr laut, dass sie jetzt jemand rufen solle, der englisch spricht. Ein Handy lag auf dem Tisch, das reichte ich ihr. Sie fluchte noch etwas in irgendeiner Sprache, ich fluchte zurück, dann erschien endlich der palästinensische Rezeptionist von der Nacht und zeigte mir mein Bett in einem kleinen Zimmer mit vier Doppelstockbetten. Ich könne eines der freien Betten nehmen, er gab mir noch ein frisches Handtuch. Haken zum Aufhängen von Klamotten gab es keine, zum Glück war der Platz an der Wand für meinen Rucksack frei. Ein russischer Mitbewohner kam aus der Dusche. Der sprach auch kein Englisch und schaute ernst drein.
Ich machte mich oberflächlich frisch, stopfte mein Portemonnaie in meinen Brustbeutel. Ich wollte mich nicht im Schlaf an meinem Brustbeutel strangulieren und legte den Brustbeutel heimlich unter das Kopfkissen. Wenn ich im Tiefschlaf bin, könnte das Ding doch jemand klauen. Vertrauenserweckend war mir das Quartier nicht. Obwohl ich genug Geld für ein Hotel hätte, buchte ich ein einfaches Hostel mit Acht-Mann-Schlafsaal. Alpenwanderer kennen das auch von den Wanderhütten. Ich zeltete in meinem Leben schon häufig. Im Urlaub brauche ich ein Bett, eine Dusche und halbwegs akzeptable hygienische Verhältnisse. Ich hatte auch die Hoffnung, dass ich mit Mitmenschen in einem Schlafsaal eher in das Gespräch komme, als wenn ich einsam in meinem teuren Hotelzimmer hocke. War mein Geiz doch falsch? Vielleicht ziehe ich morgen in ein Hotel und pfeife auf das gegebene Geld für die vier Nächte in dieser Herberge.
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