Weißt du noch, mein lieber Schatz – der ehemalige katholische Pfarrer von Bad Liebenstein zeigte uns den Beichtstuhl seiner neuen modernen Kirche und berichtete uns freudig, dass er sich nach der Beichte immer sehr erleichtert fühle. Katholisches Leben, das wir Nicht-Katholiken gar nicht richtig erlebt und vollends verstanden haben.
Der schwere belastende Stein ist mit der Beichte abgeworfen.
Dazu dienst du mir jetzt – Mein lieber BV.
Ich stelle dich mir als ein Gemisch aus mir vertrauten Freunden, Vorgesetzten, Lehrern, meinen Eltern, meiner Schwester vor. Ihr lasst mich an Eurer Schulter ausheulen und gebt mir als mein BV Absolution.
4:10 Uhr. Es ist Schabbat – der wöchentliche jüdische Feiertag vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag, auch Sabbat genannt. Der Sonntag ist in Israel ein normaler Arbeitstag.
In den meisten Teilen Israels ist jetzt weitestgehende Stille. Die meisten Juden schlafen jetzt brav, ob sie nun gläubig sind oder säkular. Ein säkularer Jude ist ein Jude, der ohne Glauben lebt.
Hier im Zentrum Tel Avivs – dem säkularen Zentrum des Landes – ticken die Uhren anders. Einige Nachtschwärmer wandeln noch durch die City. Oft lachen sie und unterhalten sich laut. Ich bin bei McDonald’s am Rothschild-Boulevard unweit der Ecke zur Allenby Road eingekehrt und habe gerade einen Chicken-Mac mit Pommes verzehrt. Ein halber Becher Cola wartet noch auf seine Vernichtung. Ein Schwarzer räumt auf. Müll liegt auf dem Fußboden rum. Meinen Tisch in der Ecke habe ich mir zum Schreiben mit Servietten gereinigt. Er blitzt nicht vor Sauberkeit, jedoch okay, es klebt nichts. Von Cola-Resten zusammenklebende Tagebuchseiten würden mich wirklich belasten. Im Leben ist niemals alles perfekt und auf Reisen schon gar nicht. Meinen Reiseführer und die aktuellen Tagebuchseiten werde ich unterwegs gut zusammengepackt in einer Plastiktüte im Rucksack verstauen. Der Reiseführer gehört meinem Cousin – ein sehr korrekter Bauingenieur. Ob ihm das stinkt, dass ich den Reiseführer einfach mitgenommen habe?
Vieles habe ich in den wenigen Stunden seit meiner Landung 23:30 Uhr erlebt:
Kaum hatte ich das Flugzeug verlassen, passte mich eine Frau des Flughafensicherheitsdienstes ab. Die anderen Passagiere neben mir durften weiter gehen. Vielleicht hielt sie mich an, weil ich schon als einsamer Wanderer erkennbar war. Ich bin frisch rasiert, dennoch traf es mich.
Sie wollte meinen Pass sehen und fragte, was ich in Israel wolle.
Ich erwiderte. „Tourist.“
„Reisen Sie allein?“
„Ja.“
Sie durchblätterte die letzten Seiten meines Reisepasses. Der Pass ist erst ein reichliches Jahr alt. Es sind nur Stempel von Sotschi und Antalya vom letzten Jahr drin. Mit Stempeln aus dem arabischen Raum oder gar vom Erzfeind Iran wäre ich wohl terrorismusverdächtig? „Wo sind Sie untergebracht?“
„In einem Hostel in Tel Aviv.“
„Zeigen Sie mir die Buchung!“
„Okay.“ Ich holte die Buchung aus meinem Brustbeutel und gab sie ihr.
Sie gab mir den Reisepass zurück und schaute sich die Hostel-Buchung an.
Nun reichte es mir langsam. „Ich dachte ich wäre hier in einem freien Land, das mutet ja schon an wie …“
„Ja wie denn? Sagen Sie es!“
„Wissen Sie, ich komme aus Ostdeutschland und ich denke so ein bisschen an unseren alten Geheimdienst ›Stasi‹.“
Sie verzog keine Miene und drehte noch den Zettel um.
Da der Wald mir leid tut, nutze ich leere Papierrückseiten zum Ausdruck. Die Rückseite des Blattes war ein alter Gehaltsschein meiner Frau.
Ich zog oben an dem Formular und sagte dazu: „Das ist nur die Rückseite, die ist privat und ganz allein meine Sache.“
Sie ließ den Zettel los und ich ging grußlos von dannen. Im Buch „Guten Morgen, Tel Aviv!“ von Katharina Höftmann las ich bereits, dass man in Israel oft resolut auftreten muss, sonst geht man unter. Auch das wollte ich selbst erfahren.
Ich hatte schon Bedenken, dass die Sicherheitsbeamtin mich per Funk bei der regulären Passkontrolle als verdächtige Person meldet und ich näher untersucht werde. Dem war nicht so.
Wegen des momentanen Schabbat fuhren keine Busse und keine Sherut-Taxis nach Tel Aviv. Ich konnte nur mit einem normalen Taxi fahren, was natürlich teurer wäre. Ich als Wandersmann könnte doch gleich mit dem Wandern in dieser Nacht beginnen. Ein Sicherheitsmann sagte mir, dass ich dafür fünf Stunden bräuchte. Später stellte ich fest, dass ich es in der Hälfte der Zeit geschafft hätte. Zu meiner Sicherheit hätte ich aber auf das Morgengrauen gewartet, wäre dann erst losmarschiert und hätte nichts von der ungläubigen Schabbat-Nacht hier in Tel Aviv mitbekommen.
Mit einem schwedischen Paar teilte ich mir ein Taxi. Wir schwatzten ganz nett über Schweden, Deutschland und darüber, was wir vorhaben.
Belanglose Dinge will ich dir – Mein verehrter BV – nicht erzählen.
Irgendwann will ich auch nach Schweden, jetzt ist jedoch Israel mein Thema.
Der Taxifahrer sprach kein Englisch oder tat nur so. Das Navi sprach russisch. Mit meinen russischen Brocken bekam ich heraus, dass er vor 28 Jahren von Sewastopol nach Israel übersiedelte.
Die Schweden wurden zuerst raus gelassen und zahlten 2/3 des Preises laut Taxameter an mich. Der Taxifahrer fuhr dann noch etwas im Kreise und am Ende kam zu dem Taxameterpreis noch eine Steuer hinzu. So verlor ich etwas Geld zusätzlich.
Als ich mit dir, mein lieber Schatz, vor drei Jahren in Istanbul war, karrte uns der Taxifahrer auch erst mal ein bisschen quer durch die Istanbuler Nacht. Auf der Hotelbuchung war damals keine Telefonnummer, da konnte er sich nochmals dumm stellen. Nach einem kleinen Wutausbruch von mir kamen wir dann doch an. Offenbar sind das die gängigen internationalen Tricks der Taxifahrer, doofe Ausländer abzuzocken. Nun, so wohlhabend sind die Taxifahrer in der Regel nicht.
Vom Taxi aus sah ich schon, dass das mitternächtliche Leben in Tel Aviv floriert. Etwa 1:00 Uhr kam ich im Hostel an, zahlte, packte die wichtigsten Dinge in meinen kleinen faltbaren Tagesrucksack und ließ meinen großen Rucksack dort in der Ecke stehen. Das Hostel ist nur zwei Minuten vom Meer entfernt. Die Uferstraße ist gut beleuchtet und es waren noch einige harmlos anmutende Menschen unterwegs. Eigentlich wollte ich bis zum Morgengrauen auf dem Flughafen pennen. Für die wenigen Stunden wollte ich nicht den ganzen Tagespreis eines Quartiers bezahlen, dazu war ich zu geizig, zudem sollte die erste Wanderung vom Flughafen in das Quartier gleich mein erstes Ferienerlebnis werden. Früher in der Schule mussten wir Schüler immer nach den Sommerferien einen Aufsatz über unser schönstes Ferienerlebnis schreiben.
Nun, es ist anders gekommen und ich habe ein wenig den säkularen Tel Aviver Schabbat erlebt.
Die Uferstraße war gut beleuchtet. Am Rande des breiten uferseitigen Fußweges schliefen einige Penner, dahinter fing der Strand an. Der lag im Halbdunkel, dahin traute ich mich nicht. So ganz wohl fühlte ich mich in den ersten Stunden nicht, ganz allein mitten in der Nacht einer großen Stadt eines mir noch fremden Landes. Dass die Kriminalität nicht allzu hoch hier ist, wusste ich. Ein Londoner Hotelangestellter sagte mir vor Jahren, dass – egal, wo du bist auf dieser Welt – dein äußerliches Bild für deine Sicherheit das Wichtigste sei. Ein torkelnder, hilfloser Mensch lädt Kriminelle immer ein. Ein aufrecht marschierender athletischer Mann bietet weniger Angriffsfläche. Die absolute Sicherheit gibt es nirgends. Leben heißt auch etwas wagen.
Die Allenby Road ist unweit vom Quartier. Ich freute mich, dass das Hostel so nahe dem Strand und dem Zentrum ist. In der Allenby Road und im südlichen Rothschild Boulevard pulsierte das Leben. Junge Leute – um die 20 Jahre alt – grölten vor Lokalen, aus denen Musik schallte. Niemand war aggressiv. Hier fühlte ich mich sicher. Ich bummelte in der Allenby Road hin und her, trank an einem Imbiss draußen sitzend ein israelisches Bier. Ich ging auch in einige Nebenstraßen, nach wenigen Metern war jeweils Stille und ich fühlte mich weniger sicher, obwohl keine zwielichtigen Typen zu sehen waren. Es könnten jedoch plötzlich einige auftauchen und mir den Weg zum Zentrum abschneiden. An irgendwas muss man ja auch irgendwann sterben. Hier jedoch? – sehr unwahrscheinlich. Die Temperatur ist angenehm mild. Mit einer dünnen Jacke kann man gut draußen sitzen.
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