Am Anfang hatten wir uns gegenseitig gemocht, aber letzten Endes wusste keiner von uns, wie man sich umeinander kümmert . Doch diese Erfahrung lehrte mich, dass eine Gemeinschaft, die darauf fußt, dass Regeln und Vorschriften bei allen verhasst sind, letztlich genauso enttäuschend und bedrückend ist wie eine Gemeinschaft, die auf der Fähigkeit fußt, Regeln und Vorschriften zu befolgen.
Ich zog aus. Zwei Wochen später nahmen die Bullen das Haus auseinander.
Kapitel 4
Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich.
– Römer 7,15 (Luther)
Am Sonntag nach Neujahr 1992 war ich seit sechs Tagen trocken und saß in einem trüben, schmucklosen Raum voller Zigarettenqualm und trockener Frauen – Vorstadthausfrauen, ausgemergelte Cocktailkellnerinnen, ein paar Großmütter und eine Anwältin – im ersten Stock der York Street. Die „York Street“ ist ein altes viktorianisches Haus, das als Zentrumfür Alkoholiker-Selbsthilfegruppen in Denver dient. Der Glanz des Hauses war in den zwanzig Jahren, in denen es durchweg als Treffpunkt für trockene Trinker gedient hatte, ziemlich verblasst. Auf der prächtigen umlaufenden Veranda, auf der vor langer Zeit viktorianische Damen in Korsetten und elegante Herren im Kummerbund lustgewandelt waren, tummelten sich halb volle Aschenbecher, obdachlose Männer und Anwälte, die flugs in ihre Audis schlüpften, um nicht von Kollegen oder Mandanten, die vielleicht gerade die eigentliche York Street entlangfuhren, in einer Reha-Einrichtung gesehen zu werden.
Früher durfte man in der York Street rauchen, aber nur im ersten Stock. Rauchen hilft, wenn man vom Nichttrinken den Tatterich hat und sowieso schon nicht ganz sicher ist, ob das mit dem Entzug überhaupt funktionieren wird. Ich war mir keineswegs sicher, ob ich das schaffen würde, was ich in der York Street eigentlich zu suchen hatte oder ob irgendeine dieser Frauen je durchgemacht hatte, was ich gerade durchmachte. Ich wusste nur, dass ich sie alle nicht leiden konnte.
Wir saßen im ersten Stock im Kreis, alle schwafelten von Gott, bla bla bla, von Ergebung, bla bla bla, und ich glaubte kein Wort davon. Meine Haut fühlte sich an wie die raue Seite eines Klettverschlusses, und jedes Geräusch riss an meinen Nerven. Mein rechter Fuß ließ mein Bein wild auf- und abwippen, als wäre er zu nichts anderem da. Ich musste an meine trockene Freundin Nora denken, die einmal gesagt hatte, wäre sie keine Alkoholikerin, würde sie sich jeden Tag besaufen. Ich lächelte darüber, wie genau das die Sache traf. Was ich eigentlich wollte, waren ein paar Gläser Wodka, aber was ich hatte, waren sechs trockene Tage und offenbar so etwas wie eine nervöse Störung.
Während die Anwältin redete, wanderten meine Gedanken eine Woche zurück zum Weihnachtstag, an dem ich um zehn Uhr morgens mit dem Trinken angefangen hatte, um vierundzwanzig Stunden später im Bett eines Kochs aus dem Restaurant, in dem ich arbeitete, aufzuwachen. Ich konnte mich nicht erinnern, je Zeit mit ihm verbracht oder ihn auch nur attraktiv gefunden zu haben. Was mich aber am meisten erschreckte, war nicht, dass ich so viel getrunken hatte, dass ich in einem fremden Haus gelandet war, ohne mich an den Vorabend erinnern zu können. Zu dieser Zeit hatte ich mich schon eine ganze Weile lang durchgehend dämlich verhalten: Ich hatte mich im Wohnzimmer eines Junkies tätowieren lassen, auf der Toilette bei Nell’s in New York Koks geschnupft und auf einer vereisten Straße einen Motorradunfall gebaut (da ich nicht nüchtern genug war, um mir zu überlegen, dass der Winter vielleicht nicht unbedingt die beste Jahreszeit fürs Motorradfahren ist). Das eigentlich Erschreckende an jenem Weihnachtstag war, dass nichts von alledem mich noch erschreckte.
Hätte meine arme Mutter auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt, so wäre sie geradewegs in Ohnmacht gefallen, aber vor mir hatte ich so getan, als gehörte das alles einfach nur zu meiner Starrolle in Andrew Lloyd Webbers Version von Nadia . Und war ich nicht fabelhaft in meiner Rolle? Ich trug meine Trinkerei mit einer Tollkühnheit, als wäre ich eine Heldin der Ausschweifung. An diesem Weihnachtstag aber fühlte es sich beschissen an. Mir wurde undeutlich bewusst, dass ich einfach nur versuchte, ein bestimmtes Bild von mir zu verwirklichen, das ich für zutreffend hielt.
Ich rechnete damit, mit dreißig tot zu sein. Woher genau dieser Gedanke kam, weiß ich nicht genau, aber ich vermute, aus einem Film über Jim Morrison. Oder vielleicht war es auch Sid and Nancy . Welchen Hollywoodstreifen ich mir auch als Abbild meiner selbst zu eigen gemacht hatte, jedenfalls brauchte ich Jahre, bis ich bereit war, diese Vorstellung von mir selbst zu überdenken. Die Vorstellung, dass ich leicht neben der Spur war (aber auf zauberhafte Weise) und jung sterben würde, war mir zu so etwas wie einem Lieblingsoutfit geworden, das ich nicht variieren wollte, weil ich mir darin so gut gefiel. Anfangs fand ich das toll. Als Teenager fand ich mich super in der Rolle, Drogen zu nehmen und alle Weisheit zu verschmähen. Ich hatte das Outfit anprobiert, mich darin vor dem Spiegel gedreht und mich bewusst für dieses Aussehen, dieses Image, diese Identität entschieden. Aber mit der Zeit hatte ich, ohne es zu merken, die Fähigkeit verloren, darüber zu entscheiden. Ich war zu dem geworden, als was ich mich anfangs nur verkleidet hatte.
Wenn man etwas nicht im Griff hat, wie ich zum Beispiel – ich brauche nur ein Glas zu trinken, und schon sind alle Leinen los, wie sehr ich auch motiviert sein mag, mich zu beherrschen – dann ist es einfacher, sich das Leben so einzurichten, dass es aussieht, als hätte man sich das alles so ausgesucht, als sich der Wahrheit zu stellen: Man ist gar nicht mehr fähig, sich irgendetwas auszusuchen.
Am 26. Dezember 1991, sechs Tage vor dem Treffen, in dem ich jetzt saß, war ich zu meinem ersten Zwölf-Schritte-Treffen gegangen, um meiner Freundin Sandra zu beweisen, dass ich keineswegs eine Alkoholikerin war. Sandra war eine halbprofessionelle Betrügerin, die einen Großteil unseres Geldes zum Saufen damit verdiente, dass sie alte Leute übers Ohr haute, indem sie ihnen mehr Hörgeräte verkaufte, als sie je brauchten. Sie war in letzter Zeit meine bevorzugte Saufkumpanin gewesen und hatte in den letzten sechs Jahren immer wieder Zeiten in Reha-Maßnahmen verbracht.
Wir waren gerade bei unserer vierten Runde bei Ms C’s gewesen, einer Country & Western Bar für Lesben, als sie herausgeplatzt war: „Ich muss mal wieder versuchen, nüchtern zu werden.“ Ihr Gesicht ist noch ganz verquollen gewesen von ihrer letzten Sauftour, und in dem Moment hatte ich im Stillen gedacht: Du Waschlappen willst schon aufgeben? „Und im Ernst, Nadia“, war sie fortgefahren, „du bist eine bekackte Alkoholikerin.“
Ich hatte ihr das Gegenteil beweisen und mir bei der Gelegenheit vielleicht auch ein paar Tipps holen wollen, wie ich mich besser in den Griff bekommen könnte, um das Saufen zu genießen, ohne mich erbrechen zu müssen. So kam es, dass ich am nächsten Tag wichtigtuerisch auf einem alten Sofa in der Ecke eines Gemeindehauskellers gesessen hatte und mich in der Gewissheit wiegte, jeder im Raum wisse bestimmt, dass ich dort eigentlich gar nichts zu suchen hatte.
Das war jetzt sechs Tage her, und mein Bein hörte einfach nicht auf zu zucken. Ich suchte immer noch nach der Bestätigung, dass ich keine Alkoholikerin sei, damit ich, oh bitte, Herr Jesus, endlich wieder saufen gehen konnte.
Margery, eine ledergesichtige Frau mit New-Jersey-Akzent, redete vom Beten oder irgendwelchem anderen Unsinn, als plötzlich aus der Küche unter uns ein Geräusch heraufdrang, als wäre ein Kugelschreiber auf den Kachelfußboden gefallen. Ich schoss vom Sofa hoch, als wollte ich Granatsplittern ausweichen, aber niemand sonst reagierte. Ohne mit der Wimper zu zucken, wandte sich Margery mit einer langen, schlanken Zigarette zwischen den Fingern zu mir und sagte: „Das geht vorbei, Mädel.“ Sie nahm einen Zug und fuhr fort: „Also, jedenfalls, Gebet ist … “
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