Durch die Krankheit hatte sich hinter meinen Augen Fettgewebe angesammelt, sodass sie aus ihren Höhlen nach vorn gedrückt wurden. Meine Augäpfel wölbten sich so weit aus meinem Schädel heraus, dass ich meine Lider nicht mehr schließen konnte. Das Weiße war überall rund um die Iris zu sehen, so als hätte ich gerade einen Stromschlag abbekommen oder etwas Grauenhaftes gesehen … nur dass ich immer so aussah.
Immer .
Von zwölf bis sechzehn Jahren. Jeden Tag meines Lebens.
Meine Mutter fuhr jeden Monat mit mir nach Denver zu irgendwelchen Augenärzten, die darüber wachten, dass meine Hornhäute keinen Schaden nahmen (ich schlief jetzt immer mit einer Augensalbe, damit mir die Augen nicht austrockneten), aber zugleich auch meine Gesichtsknochen vermaßen. Die Sache mit den Glupschaugen ließ sich operativ korrigieren. Aber erst, wenn meine Gesichtsknochen aufgehört hatten zu wachsen. Und wie ich herausfand, kann man seine Gesichtsknochen nicht durch Disziplin oder Optimismus vom Wachsen abhalten.
Die meisten Jugendlichen in der Junior High School fanden, sie sähen aus wie Insekten. Bei mir stimmte das wirklich. Im Schulbus verbrachte ich an den meisten Tagen die zwanzig Minuten Fahrzeit damit, meine Handflächen auf die Augen zu pressen, weil ich dachte, wenn ich mich nur entschlossen und beharrlich genug anstrengte, könnte ich meine Augen wieder zurück in den Schädel zwängen. Aber das funktioniert einfach nicht. Jugendliche können ihre geschiedenen Eltern nicht wieder zusammenwünschen. Sie können auch nicht durch Superleistungen in der Schule ihre manisch-depressive Mutter davon abhalten, verrückt zu sein. Und sie können ihre Froschaugen nicht zurück in den Schädel zwingen, indem sie auf der Busfahrt in die Schule zwanzig Minuten lang draufdrücken. Aber das alles hat noch keine Jugendlichen davon abgehalten, es zu versuchen.
Ich weiß nicht genau, ob der Tyrann auf der letzten Sitzreihe zur Serienausstattung aller Schulbusse in Amerika gehört, zusammen mit dem Feuerlöscher und dem großen Türhebel beim Fahrersitz, aber es kam mir jedenfalls so vor. Meine serienmäßige Tyrannin war gar nichts Besonderes: ein Mädchen namens Becky, größer als die meisten anderen, mit zerzausten Haaren, das immer Def-Leppard-T-Shirts anhatte.
Sie bemerkte meine Handflächen über den Augen, und als sie die anderen darauf hinwies, log ich. „Was machst du denn da?“, fragte Becky höhnisch. „Willst du dir etwa die Froschaugen wieder reindrücken?“
„Ich meditiere“, sagte ich. „Buddhistisch.“ Und dann setzte ich mich mit meinen dünnen Beinen im Schneidersitz auf die Bank im Bus.
Am nächsten Tag setzte ich einfach eine Sonnenbrille auf.
Irgendwann fing ich dann an, die Augen zuzukneifen und niemanden direkt anzuschauen, wenn ich durch die niedrigen Flure der Horace Mann Junior High School ging, so wie die Frühentwicklerinnen unter den Mädchen sich ihre Mappen vor die Brust hielten. Doch wenn ich auch die Augen abwandte – das Kinn ließ ich niemals sinken. Nicht ein einziges Mal.
Jeder hat seine eigene Horrorgeschichte aus der Schulzeit. Es ist eine Feuerprobe, und was für ein Mensch schließlich aus uns wird, lässt sich meist in die siebte Klasse zurückverfolgen. Dabei reagiert jeder anders auf seine Schulerlebnisse. Was sich in mir zusammenbraute in jenen niedrigen Fluren, war mehr als nur ein „Zornproblem“, wie es später genannt wurde. Das tägliche Sperrfeuer bösartiger Bemerkungen, das mir Becky und andere entgegenspien, machte mich zwar zornig, aber irgendwie war der Zorn auch ein Schutz. Dieser Schutz bestand aus Zynismus und einem geschärften Gespür dafür, wenn Leute Bullshit erzählen. Nach einer Weile konnte ich das riechen wie ein Drogenspürhund auf einem kolumbianischen Flughafen.
Meiner Kirchengemeinde muss ich bei all ihren Fehlern eines lassen: Sie war der einzige Ort außerhalb meines Elternhauses, wo die Leute mich nicht angafften oder sich über mich lustig machten. In der Gemeinde wurde ich mit meinem Namen begrüßt anstatt mit irgendwelchen Spottbezeichnungen. In der Gemeinde konnte ich zur Jugendgruppe gehören. In der Gemeinde starrte mich niemand an. Deshalb war es auch so schlimm für mich, dass es letzten Endes andere Gründe gab, warum ich dort nicht hinpasste.
Dass ich zur Church of Christ gehörte – und somit Christ war –, bedeutete vor allem, dass ich sehr gut darin war, gewisse Dinge nicht zu tun. Nicht zu trinken natürlich, nicht bissig oder sarkastisch zu sein, keinen Sex außerhalb der Ehe zu haben, nicht zu rauchen, nicht zu tanzen, nicht zu fluchen, mich nicht in Leute außerhalb der Gemeinde zu verlieben und natürlich, was vielleicht das Wichtigste überhaupt war, nicht mit einer gemischten Gruppe baden zu gehen. Je besser man es hinkriegte, diese Dinge nicht zu tun, desto besser war man als Christ. Schon damals kam es mir nicht so vor, dass es die Gnade Gottes oder die radikale Liebe Jesu war, die die Leute in der Church of Christ vereinte; es war ihre Fähigkeit, gut zu sein. Oder zumindest ihre Fähigkeit, gut zu scheinen. Und das kriegt nicht jeder hin.
Während ich also trotz meiner Froschaugen in der Gemeinde akzeptiert wurde, waren die Wut und der Zynismus, die sich in mir infolge dieser Froschaugen angestaut hatten, ganz und gar „nicht christlich“. Meine neu entdeckte Vorliebe für das Wort „Bullshit“ zum Beispiel war nicht christlich. Der Punkrock bewies mir, dass es da draußen noch andere Leute gab, die auch schreien und einen draufmachen wollten, und das veränderte mein Leben. Aber auch Punkrock, Schreien und einen draufmachen waren – nicht christlich. Und damit war ich nicht christlich.
Ich setzte meinen unchristlichen Weg fort, indem ich sechs Monate vor meiner Augenoperation anfing zu trinken. Wenn wir dann vier Jahre vorspulen, war ich eine nun nicht mehr froschäugige Neunzehnjährige mit lila Haaren, einem Alkoholproblem, einem Einstellungsproblem und einem Kein-Tagohne-Joint-Problem.
Die meisten Gleichaltrigen waren inzwischen auf dem College. Ich hatte das auch versucht, war aber schon nach vier Monaten gescheitert. Mit meiner Fähigkeit, zu trinken „wie ein Mann“, hatte ich zwar bei den Verbindungsstudenten mächtig Eindruck gemacht, aber ich hatte es nicht geschafft, mich auch mal im Hörsaal blicken zu lassen. Erst später dämmerte mir, dass es zwischen diesen beiden Dingen vielleicht einen Zusammenhang gab.
Nach meinem eher mittelmäßigen Schulabschluss hatte ich mich, sozusagen, in die Pepperdine-Universität hineingeschmeichelt. Genau genommen war das eine Hochschule der Church of Christ, aber da sie sich in Kalifornien befand und nicht in einem richtigen christlichen Staat wie Texas oder Tennessee, war sie den Traditionalisten suspekt. Bedenkt man, wie die Gemeinde über „gemischtes Baden“ dachte – Jungen und Mädchen gleichzeitig im selben Schwimmbad –, muss ihnen eine Hochschule der Church of Christ im Strandparadies Malibu ähnlich widersinnig vorgekommen sein wie ein amisches Internat auf dem Strip in Las Vegas.
Nach meinem kurzen Ausflug aufs College ging ich zurück nach Denver. Nachdem ich dort ein paar Monate lang in einem schicken mexikanischen Restaurant mit vernachlässigbarem Essen Teller gewaschen hatte, traf ich Scotty, einen neunzehnjährigen Kiffer mit langem Kreuz und großem Herzen, der eine Wohnung in der Albion Street hatte und sagte, da könne jeder unterkommen. Keine Woche später half Barb mir beim Einzug.
An dem Abend, als ich einzog, deutete meine Schwester von der offenen Wohnungstür aus auf den versifften Küchentresen, eine riesige grüne Bong, ein Zimmer voller Matratzen auf dem Fußboden und einen Kerl, der auf einem zerfledderten Sofa schlief. „Schätzchen“, flüsterte sie, „ist das dein Ernst?“
Wir haben nun mal nicht alle das Zeug zur Akademikerin, Barb , dachte ich im Stillen.
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