In diesem Selbstverständnis fühlten wir uns als Automationsprojekt im Psychologischen Institut wie die Fische im Wasser. Unsere Hoffnungen auf menschliche Entwicklung in der Automationsarbeit sahen wir gestärkt durch das von Ute Holzkamp-Osterkamp formulierte Konzept der »produktiven Bedürfnisse« (1975, 76). Gehört es nicht zur menschlichen Natur, eingreifen, gestalten und verändern zu wollen, sich die Welt anzueignen, um sie zum Wohle aller bewohnbar zu machen? Unser ungebrochener Optimismus in dieser Frage entstand zwar vor der Zeit, da die Meldung von Umweltkatastrophen fast täglich demonstriert, dass die Menschen ausgezogen zu sein scheinen, die Welt unbewohnbar zu machen. Jedoch wird unter diesen Verhältnissen der Einsatz für die Verwirklichung eines Menschseins umso dringlicher, welches zugleich die Bewahrung und Befriedung der Welt und die Entfaltung der individuellen Kräfte auf die Tagesordnung setzt.
»Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer Spezies, ihr Gattungscharakter, und die freie bewusste Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.« (MEW EB 1, 516)
In diesen Worten des jungen Marx fühlten wir uns aufgehoben, einig in der Kritischen Psychologie und wohlgerüstet für unser Automationsprojekt.
In Ute H.-Osterkamps Entwurf schließen die »produktiven Bedürfnisse« das Verlangen nach der Verfügung über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen ein; der Protest gegen fremdbestimmte Produktionsverhältnisse kann mitgedacht werden. Die Vorstellung, dass der Mensch mit einem Verlangen nach produktivem Tun ausgestattet sein könnte, gab den in Sozialarbeit und Kindererziehung tätigen Psychologen unmittelbar Auftrieb. Sie übertrugen die kategoriale Form umstandslos auf die Wirklichkeit in Kindergarten und Schule – heraus kam eine neuerliche »Erziehung zur Liebe zur Arbeit«. Die einschnürende Kälte aus den alten Büchern meines früheren Dissertationsprojekts wurde gelockert durch die warme Fröhlichkeit der Erzieher. Die Umklammerung blieb. Vergeblich versuchten wir auf der methodischen Ebene den Status der Kategorie einzuklagen. Zu verführerisch war es, die alten Erziehungsziele von Fleiß, Disziplin, Ordnung usw. durch die neue Kritische Psychologie nicht nur zu legitimieren, sondern sogar mit dem Atem des Revolutionären zu beseelen.
Wir vom Forschungsprojekt zur Automationsarbeit wussten ›natürlich‹, dass der Begriff der »produktiven Bedürfnisse« nicht unmittelbar empirisch verwandt werden konnte. Aber konnten nicht »Ansätze«, »Triebkräfte«, »Formen« dieser menschlichen Ausstattung hier und heute gefunden werden? Das unlösbare Problem, mit dem wir uns herumschlugen, war kurz gesagt dieses: Die Vorstellung, dass dem Menschen ein Bedürfnis nach Produktion innewohne, ja dass er so sein Menschsein verwirkliche, verengte unseren Blick auf die Entwicklung einzelner Individuen in Bezug auf ihre Fähigkeiten zur Produktion im Denken, Planen, Können und Wollen. Dies trotz besseren Wissens um die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Fragen der Zusammenarbeit mussten wir zusätzlich anfügen; gesellschaftliche Fremdbestimmung war für uns der beengende Rahmen, der das übergreifende Wollen behinderte, nicht selbst eine Form des Denkens und Handelns.
Die einzelnen Menschen gerieten uns zu bewusst tätigen Wesen; aber ihr Bewusstsein kreiste in unserem Entwurf nicht allein ausschließlich um Arbeit, es hatte ihr Sein aufgeschluckt.
Wie erleichtert waren wir, als Klaus Holzkamp in der Grundlegung nicht nur die »produktiven Bedürfnisse« ohne weitere Auseinandersetzung als zentrale Kategorie wieder verschwinden ließ (bzw. ersetzte durch die Wendung »produktiver Aspekt menschlicher Bedürfnis-Verhältnisse« [242]), sondern sich sogar an den Hauptbrocken wagte: Marx und die Arbeit. Ohne große Umstände wird jener Kronzeuge der vielen Bücher, die zur Liebe zur Arbeit erziehen wollten, jener historisch belastete Satz von »der Arbeit als erstem Lebensbedürfnis« aus Standpunkt und sozialistischer Perspektive entfernt:
»Nicht die ›Arbeit‹ als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern ›Arbeit‹ nur so weit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess erlaubt, ihn also ›handlungsfähig‹ macht. Mithin ist nicht ›Arbeit‹, sondern ›Handlungsfähigkeit‹ das erste menschliche Lebensbedürfnis – dies deswegen, weil Handlungsfähigkeit die allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins ist und Handlungsunfähigkeit die allgemeinste Qualität menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung.« (243)
Endlich vorbei mit der Drohung von Arbeitserziehungslagern, der fröhlichen Unterwerfung im Kindergarten, der Lähmung durch die Schule, der puritanischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus, dem arbeitenden Gott?
Im Begriff der Handlungsfähigkeit sind die gesellschaftlichen Verhältnisse auf jeden Fall mitgedacht und einklagbar. Der Begriff hat zudem den Vorteil, Bewegung einzubeziehen. Es gibt Stufen von Handlungsfähigkeit, gab es Stufen von Arbeit? Arbeit konnte zum bloßen Produktivismus geraten; der gesellschaftliche Bezug konnte verloren gehen. Im Begriff der Handlungsfähigkeit dagegen denken wir den Kampf um die Balance in Gesellschaft, die Bewegung zu immer größeren Fähigkeiten des Handelns, den Erwerb dieser Fähigkeiten und die Verfügung über die Bedingungen, die beides umfassen. Ja, dies ist das erste menschliche Lebensbedürfnis, ohne Zweifel.
Die Befriedigung über diese Wendung wird kleiner durch zu viel Beifall.
Da sind zunächst die vielfältigen Stimmen aus der Frauenbewegung. Der marxsche Arbeitsbegriff taugt nicht für die Frauenbefreiung; schlimmer, er ist eigens erfunden, um die Frauenarbeiten verschwinden zu lassen. Arbeit bei Marx, das ist männliches Tun, Eingriff in die Natur bis zu ihrer Zerstörung, Produktion um der Produktion willen, Entwicklung der Technik bis zur Atombombe, Herrschaft des Geistes, der Rationalität über das Leben. Die Befreiung der Arbeit aus kapitalistischen Zwangsverhältnissen wurde als Befreiung des Arbeiters gedacht, nicht als die der Hausfrau. Überwinden wir auch diese Probleme mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit? Zweifellos eröffnet er ein Feld, in dem Frauenunterdrückung und -befreiung artikulierbar werden. Er ist praktikabel, nützt hier und heute, ja selbst seine Perspektive ist aus den unendlichen Weiten frühmarxscher Utopie ins Machbare gerückt. Hat er jetzt wirklich das einstmals Gewollte eingeholt?
Als ich vor Jahren »arbeitslos« war, gab es in einer Arbeitsgruppe Kritischer Psychologen einen heftigen Streit um meine Behauptung, dass mein politisches Engagement, meine vielfältigen Aufgaben zu Hause und in Verlag und Redaktion der Zeitschrift Das Argument aus mir eine Person machten, die durch Arbeit mit der Gesellschaft verbunden war. Selbstredend dachte keiner daran, als Arbeit nur entlohnte Arbeit anzuerkennen; jedoch war klar, dass die gesellschaftliche Anerkennung und Einbindung ein wesentlicher Faktor der Menschwerdung war und vor allem, dass jede Änderung der Verhältnisse von innen aus den Erwerbsarbeitsprozessen kommen müsse, nicht von außen, von den Marginalisierten – Arbeitslosen, Hausfrauen, Subkulturen aller Art. Die Polemik ging so weit, dass die Möglichkeit von Persönlichkeitsentwicklung für Arbeitslose bestritten werden konnte. Damals – in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – war das Phänomen der Arbeitslosigkeit noch nicht so allgemein. Heute, angesichts der Perspektive einer Abnahme »produktiver Arbeit« (Arbeit im produktiven Sektor) auf zehn Prozent bis zum Ende des 20. Jahrhunderts und einer strukturellen Arbeitslosigkeit, die jedes Jahr zunimmt, sind die Sozialwissenschaftler herausgefordert, den Zusammenhang von Arbeit und Leben zunächst einmal wenigstens neu zu denken.
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