Peter Jehle - Zivile Helden

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"Sie sitzen schon, mit hohen Augenbrauen, / Gelassen da und möchten gern erstaunen", heißt es im FAUST. Doch die Wirklichkeit ist anders. Im Parterre gibt es keine Sitzplätze, die den Blick der Zuschauer zwangsläufig auf die Bühne ausrichten würden; ausschließlich männliche Zuschauer kommentieren lautstark das Geschehen und drehen der Bühne nicht selten den Rücken zu, weil hinten im Saal oder oben auf den Rängen gerade das interessantere Schauspiel stattfindet. Im 18. Jahrhundert sind wir noch weit entfernt von den Momenten vollkommener Illusion, die sich Stendhal gewünscht hat. Und doch wird gerade das Theater zu einem der Orte, an denen die Produktion eines neuen gesellschaftlichen Subjekts betrieben wird – eines zivilen Helden, der den adligen Müßiggänger wie den soldatischen Typus in den Schatten stellt. Der zivile Held bezieht sein Selbstverständnis aus nützlicher Tätigkeit – nützlich für die vielen, die von ihrer Arbeitskraft leben müssen. Wie Diderots Enzyklopädie den nützlichen Wissenschaften ein Forum geboten hat, so das Theater dem zivilen Helden, der eine neue Lebensweise vorführt. Zum Bahnbrecher der modernen Welt, wie Gramsci sagt, wird nicht derjenige, der sich vor allem mit den Beziehungen zwischen Höflingen beschäftigt, sondern derjenige, der «Ratschläge zur Erbauung des Typus des Bürgers in der Zivilgesellschaft» gibt.

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Peter Jehle

Zivile Helden

Theaterverhältnisse und kulturelle

Hegemonie in der französischen und

spanischen Aufklärung

Argument

Berliner Beiträge zur Kritischen Theorie Band 11

Argument Sonderband Neue Folge AS 306

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

Deutsche Originalausgabe

© Argument Verlag 2010

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040 / 4018000 – Fax 040 / 40180020

www.argument.de

Umschlaggestaltung: Martin Grundmann, Hamburg

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549547

Erste Auflage 2010

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Inhalt

Cover

Titel Peter Jehle Zivile Helden Theaterverhältnisse und kulturelle Hegemonie in der französischen und spanischen Aufklärung Argument

Impressum Berliner Beiträge zur Kritischen Theorie Band 11 Argument Sonderband Neue Folge AS 306 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Deutsche Originalausgabe © Argument Verlag 2010 Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg Telefon 040 / 4018000 – Fax 040 / 40180020 www.argument.de Umschlaggestaltung: Martin Grundmann, Hamburg Satz: Iris Konopik ISBN 9783867549547 Erste Auflage 2010 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Einleitung

Teil I Frankreich

1 Die Eroberung des Theaters durch die Literatur

1.1 Die moralische Ökonomie des öffentlichen Platzes

1.2 Der Aufstieg des Schauspielers in die société civile

1.3 Die Konstitution des Zuschauers

1.4 Die Entwicklung des Spielortes zur Schaubühne

2 Das literarische Regime: Text und Aufführung

2.1 Das gegliederte Ganze des literarischen Theaters: Lehre – Werk – Aufführung

2.2 Der Autor als haftbares Subjekt

2.3 Die Installierung der doctrine classique

2.4 Die Festigung des neuen Kompetenzgefüges durch die Entmachtung der Sinne

3 Die umkämpfte Stellung des Lachens im Theater des Ancien Régime

3.1 Molière und die gesellschaftskritische Funktion des Lachens

3.2 Karnevaleskes und klassisches Lachen

3.3 Das Lachen als »Dokument« der Geschichte der subalternen Klassen

3.4 Die Dialektik von kirchlicher und bürgerlicher Theaterkritik

4 Kulturelle Hegemonie der bürgerlichen Gruppen: der Umbau des Theaters zur »moralischen Anstalt«

4.1 Das drame bourgeois als »Moral in Aktion«

4.2 Sensibilität und Kommerz

4.3 Das Patriarchat als Befreiungskonzept

4.4 Der Schauspieler als Künstler eines wissenschaftlichen Zeitalters

4.5 Das gesellschaftliche Dispositiv des drame bourgeois – bürgerliche und Zivilgesellschaft

4.6 Zur emanzipatorischen Funktion des Lachens bei Diderot

Teil II Spanien

1 Einleitung

2 Die Theaterverhältnisse zu Beginn des 17. Jahrhunderts

3 Das popular-nationale Theater im 18. Jahrhundert in der »kulturellen Ökonomie« des Volkes

3.1 Der theatrale Raum

3.2 Die komische Figur

3.3 Struktur der Aufführung und Illusionsproduktion

4 Die moralisch-intellektuelle Reform233 des neoklassischen Projekts

4.1 Die Produktion ziviler Helden

4.2 Die aufklärerische Entmischung von »vulgo/plebe« und »pueblo«

4.3 Das neue Subjekt und die Geschlechterverhältnisse

4.4 Die Literarisierung der Theaterverhältnisse

5 Ausbruch aus dem Intellektuellenzirkel – das Theater als Projekt einer Aufklärung von unten

5.1 Die intellektuelle und moralische Reform der Zweiten Republik

5.2 Das »Entstauben« des klassischen Theaters durch Federico García Lorca

Zitierte Literatur

Fußnoten

Über den Autor

Berliner Beiträge zur kritischen Theorie

Einleitung

Émile, der Held von Rousseaus pädagogischem Roman, soll ohne Bücher aufwachsen. Das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Zeitschriften und Wörterbücher, das dem Text eine sich von der Vormundschaft des »Buches der Bücher« emanzipierende Bedeutung gegeben hat, erscheint zugleich als eine von der Schrift beherrschte Gegenwart, der sich die Mündlichkeit als ein verlorenes Paradies des genuinen Gefühlsausdrucks entgegensetzt. Im Theater geraten die beiden Kulturen aneinander. Das Drama, das im Theater ein Publikum begeistert, kann als Text der literarischen Kritik anheimfallen. Wenn jenes sein Urteil ›vor Ort‹ unmissverständlich kundtut, so unterwirft diese das Stück einer Dogmatik, die im Bewusstsein der Regelhaftigkeit der Poetik, die zugleich eine Lehre des gesellschaftlich Gesollten ist, praktiziert wird. Das Lachen des Publikums ist ihr die unmaßgebliche Äußerung von Ignoranten. Wie die katholische Kirche notwendig immer zu spät kommt, wenn sie den langwierigen Prozess einer Heiligsprechung in Gang setzt, so eine Literaturgeschichtsschreibung, die ihr Geschäft als Applikation einer literarischen Werthaftigkeit betreibt und unter Umständen verwirft, was die Zeitgenossen begeistert hat. Houdar de la Mottes Inès de Castro, einer der größten Theatererfolge des 18. Jahrhunderts, konnte bei den Kritikern keine Gnade finden – hatten hier doch erstmals Kinder, »ganz unvernünftige kleine Geschöpfe […], die noch nichts besaßen als Empfindung« (Klemperer 1954, 106), das Gebiet der klassischen Tragödie betreten und die kommende Richtung aufs bürgerliche Drama angedeutet.

Die Konstitution der Theaterwissenschaft als Universitätsdisziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland markierte den »Bruch« mit einer Auffassung von Theater als »›textueller‹ Kunst« (Fischer-Lichte 2004, 42). Sie wurde als »Wissenschaft von der Aufführung« begründet und setzte die »Umkehr der Positionen von Text und Aufführung« voraus (ebd., 43). In Frankreich war es Pierre Mélèse, welcher der falschen Natürlichkeit der literarischen Kritik die Gefolgschaft gekündigt hat: »Si le théâtre du XVIIe siècle a suscité d’innombrables travaux, on peut observer […] que les critiques modernes considèrent ce théâtre du point de vue de la critique littéraire, c’est-à-dire comme une œuvre accomplie, intangible, dont on s’efforce de dégager l’essence, d’expliquer les intentions et de justifier l’intérêt éternel« (1934, IX). Damit war ein Wechsel der Aufmerksamkeit vollzogen, weg vom Monumentcharakter des literarischen Werks, das die Nachwelt bewundert, hin zum Verständnis eines lebendigen kommunikativen Prozesses, der von unterschiedlichen Instanzen, nicht nur einer akademisch geadelten Kritik, in Bewegung gesetzt wird. Mit den ›Theaterverhältnissen‹, dem neben ›kultureller Hegemonie‹ zweiten Schlüsselbegriff, der für diese Studie zentral ist, taucht das Ensemble der unterschiedlichen Instanzen auf, zu denen das Publikum ebenso gehört wie die Schauspieler, die Autoren oder die architektonische Anlage, in der das Stück zur Aufführung kommt. Vor allem das Publikum gewinnt in dieser Perspektive entscheidende Bedeutung. In Deutschland war es Erich Auerbach, der es, ein Jahr vor dem Erscheinen der Studie von Mélèse, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte.1 Der ›revolutionäre‹ Charakter dieser Studien hängt damit zusammen, dass die falsche Natürlichkeit des literarischen Theaters mit seinen befugten Interpreten, deren Autorität durch die Stellung im schulischen und universitären Apparat garantiert war, durchsichtig wurde. Indem das Publikum, unabhängig von der ›klassischen‹ Geltung der Texte, als eigenständige Instanz in den Theaterverhältnissen in den Blick kam, mithin die Aufführung ihren subalternen Status gegenüber der ›eigentlichen‹, literarischen Beschäftigung mit dem Text verlor, war die Fixierung aufs individuelle Schöpfertum abgesprengt und der Weg frei, um »das Vergangene in einem Stadium der noch nicht abgeschlossenen Geschichtlichkeit, als ein Werden […], als einen in fortschreitender Bewegung sich bildenden Prozess« zu begreifen (Krauss 1934/1997, 330).

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