Das Buch versucht, ein vielleicht nahe liegendes Missverständnis der Osteopathie zu vermeiden, die mit der Bezeichnung Osteopathie selbst zusammenhängt. Littlejohn behandelt die Erkrankungen von Knochen und Muskulatur, darunter auch die häufiger auftretenden Verformungen der Wirbelsäule. Dies soll verdeutlichen, dass die Osteopathie – und das ist auch die Meinung Stills – eine allgemeine Medizin ist, die zwar insbesondere auf die Wirbelsäule konzentriert ist. Aber dies geschieht vor allem, weil hier die beiden Nervensysteme verbunden sind. Wie der Text zeigt, behandelt die klassische Osteopathie natürlich auch die Organe selbst. Sie unterstellt aber, dass Fehlstellungen von Gelenken, Wirbelkörpern, Muskulatur, Faszien, Ligamenten das Nervensystem negativ beeinflussen können. Das gilt insbesondere für die Wirbelsäule, weil hier Nervenbeziehungen zu allen Organen sowie die Verbindung zum Gehirn vorliegen. Dabei ist aber wesentlich, dass eine wechselseitige, reflektorische Beziehung vorliegt. Auch Störungen der Organe drücken sich an den entsprechenden Abschnitten der Wirbelsäule aus, müssen also keineswegs von dort verursacht sein. Einliniges Denken liegt in der frühen Osteopathie nicht vor, es handelt sich um einen sehr komplexen Ansatz.
JOHN MARTIN LITTLEJOHN – KURZBIOGRAFIE
EIN GLÄNZENDER INTELLEKT
John Martin Littlejohn wurde am 15.02.1866 in Glasgow als Pfarrerssohn geboren. Er war ein hochintelligenter und wissbegieriger aber auch kränklicher junger Mann. Trotz bitterster Armut war das Elternhaus vom geisteswissenschaftlichem Studium erfüllt, und so begann seine sprachwissenschaftliche Ausbildung bereits mit 16 Jahren an der Akademie Colraine in Nordirland. Nach dem Studium der Theologie an der Universität in Glasgow ging er 1886 als Pfarrer nach Nordirland, um schon bald darauf wieder nach Glasgow zurückzukehren. Dort erwarb er mehrere Abschlüsse und Auszeichnungen in Jura, Theologie, Medizin, Philosophie und Soziologie und hielt 1886/87 seine ersten Vorlesungen.
Das raue Klima und seine Konstitution hatten ihn zu einem ebenso introvertierten wie brillanten und vielseitig gebildeten Analytiker geformt. Nach einem Unfall in der Universität, bei der er sich eine Schädelfraktur zugezogen hatte litt Littlejohn an mehrfach täglich rezidivierenden Blutungen im Hals, die ihn zum Klimawechsel zwangen. Eine große Universitätskarriere fand damit ihr jähes Ende.
1892 siedelte er mit seinen Brüdern James und William nach Amerika über und setzte seine Studien an der Columbia University in New York fort. Aufgrund seiner hervorragenden Leistungen übernahm er schon bald die Leitung des Amity College in College Springs, Iowa. Seine Beschwerden besserten sich allerdings nicht und so kam es 1895 in Kirksville zur schicksalhaften Begegnung mit Dr. Still. Bereits wenige Behandlungen führten zur deutlichen Linderung. Da Still dringend qualifizierte Lehrer an seiner 1892 gegründeten American School of Osteopathy benötigte, bot er Littlejohn einen Posten in seiner Fakultät an. Tief beeindruckt von Stills Naturkonzept der Osteopathie willigte er ein, begann 1898 seine Arbeit, schrieb sich im gleichen Jahr später als Student ein und wurde bereits 1899 zum Präsident der Schule gewählt.
Innerhalb der Fakultät gab es jedoch schon bald einen tiefen Konflikt: Stills Anhängern galt der anatomische Zugang zur Osteopathie als heilig ( lesionists ). Littlejohn und seinen Brüdern schien dies zu einfach; sie betrachteten die komplexere Physiologie als Kern der Osteopathie und befürworteten auch Therapien, die den osteopathischen Prinzipien und den Prinzipien der Natur entsprachen ( broadists ). Aber es ging auch um einen zeitlosen Konflikt: Die analytisch orientierten Akademiker in der Fakultät standen den der Intuition vertrauenden Nichtakademikern gegenüber. Nach massiven Intrigen entschlossen sich die Littlejohn-Brüder schließlich Kirksville bereits 1900 wieder zu verlassen, um in Chicago das Chicago College (School) of Osteopathy zu gründen. Die Einrichtung entwickelte sich rasch zum Wissenschaftszentrum der Osteopathie.
Man vermutet, dass der inzwischen verheiratete Littlejohn mit seinem feinen Gespür für politische Entwicklungen die verheerenden Folgen des von der American Medical Association (A.M.A.) initiierten Flexner-Reports zur Eradikation der immer stärker werdenden Osteopathie, Chiropraktik und Homöopathie, voraussah und daher möglicherweise sein weiteres Glück in England vorzog. Auch der schwindende Einfluss in seiner eigenen Schule mag dazu beigetragen haben.
1913 zog die inzwischen achtköpfige Familie Littlejohn nach Bagger Hall nahe London und John Martin begann noch während der Kriegsjahre mit Krankenhausarbeit und ‚Unterweisungen‘. 1917 gründete er die British School of Osteopathy in London und mit dem Journal of Osteopathy legte er endgültig das osteopathische Fundament Europas. Aber auch in England hatte er sich schon bald den Angriffen der British Osteopathic Association (B.O.A.) und der British Medical Association (B.M.A.) zu erwehren. Ähnlich den Folgen des Flexner-Reports führte eine Kampagne der B.M.A. 1935 zum Paliamentary Bill . Der Osteopathie wurde die Anerkennung verweigert und Littlejohn zu Unrecht als unehrenhaft bezeichnet. Der Zweite Weltkrieg tat sein übriges und die BSO schrumpfte schon bald auf eine kleine Klinik zusammen. Schließlich verstarb der neben Still wohl wichtigste Vertreter der Osteopathie 1947 in Bagger Hall.

OSTEOPATHISCHE DIAGNOSTIK UND THERAPIE
Das Fundament der osteopathischen Therapie bildet die Diagnose. Das einzig Wahre ist die osteopathische Ätiologie, die sich nicht nur mit der Grundursache beschäftigt, sondern auch alle späteren Befunde mit dieser ersten Ursache in Verbindung bringt. Die osteopathische Diagnose umfasst:
1. die Ausschluss-Methode . Sie heißt so, weil bei ihr sämtliche Symptome durchgegangen und mit den Symptomen der verschiedenen Erkrankungen verglichen werden, wobei man all jene Symptome ausschließt, die nicht mit denen der letztlich zu diagnostizierenden Erkrankung übereinstimmen. Man sollte eine vollständige Aufzeichnung der Symptome erstellen, sie dann mit jenen Erkrankungen vergleichen, die ähnliche Symptome aufweisen, und dabei schrittweise die nicht übereinstimmenden Symptome ausklammern. Durch diese Methode ist man in der Lage, alle Symptome bis auf zwei oder drei auszuschließen.
2. die differenzialdiagnostische Methode . Man kann sie anwenden, indem man analoge und sich widersprechende Aspekte miteinander vergleicht. So werden z. B. Augensymptome, Ausschläge, Fieberart, Rachensymptome usf. bei Scharlach anders aussehen als bei einfachem Fieber.
3. die individuumsbezogene Methode . Hier achtet man äußerst sorgfältig auf die Symptome beim einzelnen Patienten und unterscheidet zwischen subjektiven und objektiven Symptomen. Bei den subjektiven Symptomen handelt es sich um jene, die nur vom Patienten wahrgenommen werden können, das heißt, sobald der Patient Durst empfindet, kann er Durst als Symptom angeben. Ohne solche Angaben des Patienten ist es dem Arzt nicht möglich, derartige Symptome festzustellen. Auch mentale 12Symptome fallen unter diese Rubrik. Sie dominieren alle anderen Symptome, weil der Geist den Körper kontrolliert. Bei Typhusfieber z. B. empfindet der Patient ein mentales Schwanken, das einen sehr ernsten Befund darstellt. Ohne Delirium hat er in diesem Fall bessere Chancen, wieder zu gesunden. Ein komatöser Befund ist insbesondere bei Nervenerkrankungen sehr ernst. Objektive Symptome, z. B. Pulsschlag, Temperatur, ossäre und muskuläre Läsionen, stellt – im Unterschied zu den nur vom Patienten wahrnehmbaren Symptomen – der Arzt fest. Sie bezeichnen den anatomischen Aspekt der Diagnose.
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