Doch die romantische Physik, die Kunstlehre des Verstehens (Hermeneutik), die antike Philosophie, auch die Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert erkannten auf je eigene Weise, dass die z. T. unscharfe, diffuse Alltagserfahrung sehr viel näher an der Erfassung der Wirklichkeit liegen könnte, als es die technisch klare Anwendung der klassischen Physik vermochte. So war es auch für den bedeutenden Evolutionstheoretiker Herbert Spencer klar, dass es in der Wirklichkeit keine kontradiktorischen Gegensätze geben kann (Wenn etwas der Fall ist, dann kann sein Gegenteil nicht der Fall sein – und umgekehrt). Diese auch sonst in der Philosophie seit Platon beachtete Wahrheit ist durch die Quantenphysik überraschend bestätigt worden. Im subatomaren Bereich zeigt sich, dass unsere oft harten Wirklichkeitskonstruktionen eher illusionär sind und die Frage aufwerfen, warum wir gelegentlich mit kontradiktorischen Gegensätzen arbeiten möchten. Es überrascht eher nicht, dass Werner Heisenberg von seiner experimentellen Erfahrung her Interesse an Goethes Farbenlehre entwickeln konnte. Im Kern der Realität gibt es keine kontradiktorischen Gegensätze, so etwa zwischen Quantitäten und Qualitäten, sondern immer nur Übergänge und das Zugleich verschiedener Möglichkeiten. Mithin kehrt die Physik mit der Quantenphysik aus einer Außenperspektive betrachtet zur allgemeinen Vernunft des Abendlandes zurück, und wird dort – mit Ausnahme der auf harte Fakten pochenden Behandler – gerne begrüßt. In diesem Zusammenhang dürfte es sehr spannend sein zu sehen, welche Möglichkeiten Handolls Buch für die Osteopathie erschließen wird – und welche potency sie tatsächlich besitzt.
PD Dr. Martin Pöttner
Christian Hartmann
Heidelberg/Pähl, 2004
Wir sind gewöhnlich mit zwei Konzepten konfrontiert: Zunächst mit linearen Konzepten, die aus logischen Schlussfolgerungen entstehen, sodann mit nicht-linearen Konzepten, die Sprünge in den Schlussfolgerungen, in der Überzeugung und der Wahrnehmung erfordern können. Wir brauchen beide Konzepttypen, um die Welt um uns herum zu erfassen, wie Nicholas Handoll in Die Anatomie der Potency eindrücklich vorführt. Wir müssen sowohl die Physik Newtons als auch die Quantenphysik verstehen. In der Praxis der Kranialen Osteopathie verhält es sich entsprechend. Wir müssen die wesentlich linearen Konzepte der Anatomie und Physiologie verstehen. Genauso essenziell sind die nicht-linearen Konzepte, die von der Energie handeln, welche das System zusammenhält und ausführt.
Insofern sind die Lehrenden der Osteopathie im kranialen Bereich fortwährend darum bemüht, die Studierenden mit einem Verständnis der differenzierten Teile und der Werkzeuge zu versorgen, mittels derer das Ganze erfahren werden kann. In Die Anatomie der Potency vollzieht Handoll beides. Auf liebenswürdige und humorvolle Weise führt er unsere intellektuelle Aufmerksamkeit von den Details hin zu einer umfassenden Perspektive. Aufgrund der Fülle von Informationen und Einsichten, die jenseits unseres gewöhnlichen Wissens liegen, lockert das Buch sanft die Grenzen unserer denkerischen Erfassung und Erfahrung der Sachverhalte.
Handoll wird durch eine dramatische Erfahrung nicht-linearer Realität dazu motiviert, das gegenwärtige Wissen der Quantenphysik verständlich darzustellen. Vor diesem Hintergrund versucht er folgende Fragen zu beantworten: Worin besteht Realität? Was verstehen wir unter sinnlicher Wahrnehmung? Wie interagieren diese beiden Aspekte? Zudem bespricht er viele der scheinbaren Absurditäten und Kontroversen in der Kranialen Osteopathie, die sich auf die Mechanik und auf die implizierte Dynamik beziehen. Dabei bringt er seine eigenen Interpretationen dieser Sachverhalte zum Ausdruck. Seine Interpretationen gründen auf soliden Schlussfolgerungen und Beobachtungen. Sie verdienen unsere sorgfältige Beachtung.
Dieses Buch ist allen zu empfehlen, die jemals ihre Hände auf einem Patienten platziert haben und dabei über die Fähigkeit des Lebens zu agieren staunten – und den Wunsch spürten, den Prozess besser zu verstehen. Mit anderen Worten: Ich empfehle dieses Buch allen, die Osteopathie praktizieren.
Die Anatomie der Potency ist der Versuch des Autors, seiner Erfahrung in der Praxis einen verständlichen Sinn zu geben. Das Buch wurde geschrieben, um ihm zu helfen, die physiologischen Prozesse etwas besser zu verstehen, die hinter William Sutherlands Konzept des Primären Respiratorischen Mechanismus stehen können. Dazu kommt als weiterer Schwerpunkt die Interaktion zwischen Behandler und Patient. Es geht um eine Untersuchung des Selbstheilungspotenzials des Körpers und um die Art und Weise, wie die Osteopathie mit ihm in Kontakt tritt.
Der erste Teil des Buchs diskutiert die Hypothese Sutherlands und spricht einige Fehlinterpretationen und verwirrende Themenbereiche an. Der zweite Teil versucht in Bezug auf die Relativitätstheorie Einsteins und die Quantenmechanik zu verstehen, wer wir als Menschen in unserer Umwelt sind. Sobald wir erfassen können, wer wir sind, was wir sind und wo wir uns befinden, werden wir besser verstehen, was wir tun und vielleicht auch, wohin wir gehen.
Das Buch arbeitet auf der Verständnisebene der Philosophie der Osteopathie und ihrer Ausprägung bei Sutherland, so wie sie in Einige Gedanken und den Unterweisungen in der Wissenschaft der Osteopathie enthalten ist. Es setzt zudem anatomisches Wissen voraus. Daher werden die meisten anatomischen Begriffe nicht erklärt.
William Sutherlands Konzept des Primären Respiratorischen Mechanismus ist keine Theorie, sondern stellt eine Hypothese dar. Eine Theorie besteht in einer Unterstellung, die Beobachtungen erklärt und Ereignisse voraussagt. Eine Theorie lässt sich nicht beweisen, sondern als Modell verwenden, bis dieses als falsch erwiesen wird und eine bessere Theorie an ihre Stelle tritt. Eine Hypothese besteht hingegen in einer Unterstellung, die als Basis von Schlussfolgerungen dient. Sutherlands Hypothese besteht in einem Arbeitsmodell, das auf den Prinzipien der Osteopathie beruht, die zuerst von A. T. Still benannt wurden. Sie dienen als praktische Anleitung für Osteopathen bei der Behandlung von Patienten. Es handelt sich ebenfalls um ein Modell, das solange gilt, bis es durch ein anderes ersetzt wird. In diesem Buch wird eine Erklärung dafür angeboten, wie der Primäre Respiratorische Mechanismus funktioniert.
Im Text werden die Ausdrücke „Praktiker“, „Kliniker“ und „Behandler“ weithin austauschbar verwendet und beziehen sich insbesondere auf den osteopathischen Praktiker, Kliniker und Behandler.
Ich werde über Energie sprechen. Die Energie ist das Potenzial einer Wirkung. Es handelt sich um die Potency oder das Potenzial, damit etwas geschieht bzw. sich etwas verändert.
Gelegentlich wird der Text redundant erscheinen. Das ist bewusst so konzipiert. Manchmal stellen Wörter eine unangemessene Übertragung der Bedeutung dar. Daher habe ich zuweilen versucht, dasselbe auf verschiedene Weise auszudrücken, um Verwirrung oder Fehlinterpretation zu minimieren. Ich hoffe, dass dadurch ein übermäßiges Vertrauen in bestimmte Wörter vermieden wird und so eine Bewegung entsteht, welche die zugrunde liegenden Bilder deutlicher macht. Ich entschuldige mich bei allen, denen das zu langweilig erscheint.
Es wirkt in einem derartigen Text unbeholfen, immer weibliche und männliche Wörter zu unterscheiden. Insofern habe ich mich dazu entschlossen, ein Pronomen zur Bezeichnung beider Geschlechter zu verwenden. Da ich männlich bin, würde es sehr künstlich erscheinen, wenn ich weibliche Pronomina wählte. Daher bitte ich Sie mir zu glauben, dass in diesem Buch „er“, „ihm“ und „sein“ immer auch „sie“, „ihre“ und „ihr“ bezeichnet. Ich hoffe, dass meine Kolleginnen dies ertragen können.
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