Trotz seines Perleberger Misserfolges freute sich Gontard auf einen Abend mit den Herren Alexis - der eigentlich Häring hieß - und Hitzig. Die beiden würde er zu dieser Stunde sicher im roten Salon bei Stehely am Gensdarmen-Markt antreffen. Möglicherweise las dort auch sein Freund, der Mediziner Doktor Friedrich Kußmaul, die ausliegenden Journale. Sein Freund und Kollege Gebhardt Heidenreich verkehrte hingegen eher in Etablissements etwas niederer Kategorie, wo er dem Trunke in den letzten Monaten ein wenig zu heftig zusprach und außerdem sicher sein konnte, unter den Studenten der Universität oder des eigenen Bildungsinstituts eine halbwegs aufmerksame Zuhörerschar zu finden. Vielleicht aber, und das schien wahrscheinlicher, hockte Heidenreich wieder einmal über seinen Experimenten und hatte Raum und Zeit und hoffentlich auch den Alkohol vergessen. Gontard war sicher, dass irgendein stiller Kummer Heidenreich plagte, doch wenn es um Persönliches ging, verschloss der sich selbst dem engen Freund gegenüber wie eine Auster.
Irgendwann wird es noch einmal ein böses Ende mit ihm nehmen, dachte Gontard besorgt, während er sich für den Abend umzog.
Dabei war zu diesem Zeitpunkt keineswegs vorauszusehen, dass es mit Gebhardt Heidenreich einmal ein schlimmes Ende nehmen würde. Nur Albertine Knoppe, die ebenso tugendhafte wie neugierige Tochter seiner Wirtsleute, prophezeite es ihm mitunter im halben Ernst, wenn sie den Staub zwischen seinen Gerätschaften zu beseitigen versuchte und dabei wie von unsichtbarer Hand von einem Schlag getroffen wurde, der auf seltsame Weise ihren ganzen Körper durchzuckte. Selbst gelb und bläulich knisternde Blitze von beachtlicher Länge waren ihr schon begegnet in der zugigen Mansarde direkt neben ihrer Schlafkammer, die Heidenreich für seine eigenwilligen Machenschaften nutzte. Dennoch hatten alle Verbote des jungen Gelehrten, irgendetwas zu berühren, seine verstreuten Papiere zu ordnen, ja sein Laboratorium überhaupt zu betreten, nicht gefruchtet. Allein der Anblick der blinkenden Kupferapparaturen, denen diese unheimliche Wirkung innewohnte, lud förmlich zur Berührung ein. Wie unter Zwang gab Albertine immer wieder ihrer Wissbegier und dem von der Mutter ererbten Ordnungstrieb nach.
Ansonsten verhielt sie sich so achtungsvoll zu dem jungen Mann, wie es sich gehörte, zumal Heidenreich nicht dazu neigte, sich in irgendeiner Form ungebührlich zu benehmen. Da hatte Albertine mit gewissen Studenten, die im Knoppe’schen Hause in der Mittelstraße zur Miete gewohnt hatten, ganz andere Erfahrungen machen müssen.
Umso mehr schätzte sie den zurückhaltenden jungen Menschen, der sie immer ein wenig geistesabwesend durch seinen Kneifer betrachtete, als blicke er durch sie hindurch. Sie empfand eher schwesterliche Gefühle für ihn, ja, sie neckte ihn mitunter absichtlich, um ihn ein wenig aufzuheitern. Seit einer ebenso heimlichen wie unglücklichen Liebesaffäre mit einem adligen Fräulein, an der sie infolge der durch ihre Hände gehenden Post wie dank Heidenreichs spärlichen Andeutungen innigen Anteil genommen hatte, schien ihr das nötig. Zu tief nistete der eigene Kummer in ihr, hatte sie sich doch vor vier, fünf Jahren sterblich in einen blondlockigen Studenten der Philosophie verliebt, der ihre Neigung bald auf das Heftigste erwiderte, sich dadurch jedoch nicht von seinen gefährlichen politischen Umtrieben abbringen ließ und schließlich Hals über Kopf das Weite suchen musste, wollte er nicht wie die 165 anderen Burschenschafter vom Kammergericht zu einer lebenslangen Haftstrafe oder gar zum Tode verurteilt werden.
Sie wusste nicht einmal, ob ihrem Ludwig die Flucht wirklich gelungen war. Noch immer hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, die unregelmäßig einlaufende Post würde ihr eines Tages endlich eine Nachricht aus seiner Hand bescheren. Andererseits ängstigte sie der Gedanke, eine solche Botschaft aus dem Ausland könnte im gefürchteten schwarzen Postkabinett bemerkt und aufgehalten werden, worauf sie und der Vater mit einem unangenehmen Polizeibesuch rechnen mussten.
Auch der junge Doktor Heidenreich neigte gelegentlich zu unbedachten Äußerungen über die Obrigkeit. Oder vielmehr zu wohlbedachten, denn er wusste sich stets geschickt herauszureden. Dennoch war und blieb er in Albertines Augen ein echter Gelehrter, ein wenig weltfremd und dadurch in mancherlei Hinsicht gefährdet. Allzu oft hatte sie ihm in letzter Zeit zu später, mitunter sogar zu frühester Stunde die Haustür geöffnet, worauf er mit ihrer Hilfe hinauf in seine Stube im zweiten Stock gestolpert war. Albertine bezweifelte, dass ihn der im Übermaß genossene Branntwein auf die Dauer über den Liebeskummer hinwegtrösten würde, und sie argwöhnte, dass er sich im trunkenen Gespräch zu unbedachten Bekenntnissen würde hinreißen lassen.
Außerdem belästigte das nächtliche Gepolter die Hausbewohner, insbesondere ihren Vater August Knoppe, der vor dem Königsthor eine nicht eben üppig florierende Cichorienfabrik betrieb, die sein frühes Aufstehen erforderte. Ihm gehörte das einst solide, inzwischen ein wenig heruntergekommene Haus mitten in der Neustadt, das sich nahezu seit deren Gründung im Familienbesitz befand.
Früher hatte Albertines Mutter Martha Knoppe, die aus Heidenau bei Dresden gebürtig und dem Dialekt der sächsischen Heimat noch immer verfallen war, das Haus und den Garten dahinter gepflegt und sogar einen Mittagstisch für die Herren Studenten unterhalten. Seit einigen Jahren aber folgte sie jeden Morgen ihrem Mann in die Fabrik und überließ der Tochter die Hausarbeit und allen Kummer mit den Mietern und der greisen Großmutter, die im zweiten Stock das vordere Zimmer zur Straße bewohnte. Das erste Geschoss hatte einige Monate leer gestanden, ohne dass der Vater sich bereit gefunden hätte, den Mietpreis herabzusetzen oder die Stuben an einzelne Studenten zu vermieten. Er sollte recht behalten. Gerade erst war es der Mutter gelungen, einem aus süddeutschen Landen zugereisten Mediziner die Beletage mit allen Nebenräumen zu einer ansehnlichen Jahresmiete zu überlassen.
Albertine hatte sogleich einen guten Eindruck von dem Doktor Henricus Bächerle gewonnen, einem dunkelhaarigen, nicht unansehnlichen Mann von aufrechtem Wesen und Blick, dessen Barttracht die Einschätzung seines wahren Alters ebenso erschwerte wie seine wohlgesetzte Redeweise. Alt war er jedenfalls nicht, wie sie ihrem heimlichen Schützling Heidenreich mitzuteilen wusste, der sich jedoch noch nie für die häuslichen Mitbewohner interessiert hatte. Nicht einmal für den prinzlichen Vorreiter Eginhard Spielvogel, der mit seiner totenblassen Frau Elise und drei kränkelnden Kindern in der Stube neben ihm hauste und den Albertine für einen obrigkeitlichen Ohrenbläser hielt. Sie traute ihm und seiner stillen Frau nicht über den Weg.
Heidenreich focht das nicht an, wenn er Albertine gelegentlich mit gewissen Hohenzollern-Histörchen unterhielt, denen sie mit brennenden Ohren lauschte, den Erzähler jedoch inständig anflehte, ja vorsichtig mit solcherlei Äußerungen über das geliebte Herrscherhaus umzugehen.
Heidenreich stieß darauf, je nach Stimmung, nur ein unwilliges Schnauben oder ein höhnisches Lachen aus, mäßigte aber gewöhnlich seine Stimme. Seiner Ansicht nach schien die allgemeine Demagogenriecherei und -fresserei seit dem Tode des alten Königs ein wenig nachgelassen zu haben, wovon man allerdings in der Artillerieschule kaum etwas merkte. Zu viele der alten Kalkköpfe gaben hier immer noch den Ton an, von denen Heidenreich der stockreaktionäre Oberst-Lieutenant Aemilius von Elster, genannt von Streyth, gleich aus mehreren Gründen so verhasst war, dass sogar Albertine der Name geläufig war und sie Heidenreichs tiefe Abneigung teilte, obwohl sie den fraglichen Offizier gar nicht kannte.
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