Auch Olafs Bruder Gernot gehörte wie Birge, Tochter von Ute und Gernot, von Anfang an zu den Befürwortern des Treffens. Birge wollte, obschon hochschwanger, unbedingt teilnehmen. Allein die Geburt ihrer Tochter Karoline verhindert das. Das freudige Familienereignis wird zur gelungenen, von allen Seiten begrüßten Parallelveranstaltung: „Hallo, Birge, Onkel Martin ist gerade am Ende seiner Begrüßungsrede. Gratulation zur Geburt von Karoline und wirklich alles, alles Gute für Kind, die Mutter und den Vater, schade, dass ihr nicht hier sein könnt.“ Keine Frage, Karoline war zum Baby-Star des Treffens avanciert.
„Das Familientreffen als eine Möglichkeit des Bekanntmachens und des Kennenlernens, der Zuordnung und Einordnung, des Austausches, der Aussprache, des sich Vergewisserns, des Bewusstwerdens von sozialer Vererbung, als Möglichkeit, sich mit dem Leben der Eltern, Großeltern, von Kindern und Enkeln, der Tanten und Onkel auseinanderzusetzen. Es geht nicht um Beschuldigungen, Rechtfertigungen, Verteidigung irgendwelcher Positionen, nicht um Spiegeleffekte, schon gar nicht um die Verteilung eines Lottogewinns“, schreibe ich an Jörg, weil ich ihm einsichtig machen will, worin ich den Sinn des vorerst einmaligen Treffens sehe. Mein Schreiben war notwendig geworden, weil ich seine thailändische Partnerin, jetzt seine Ehefrau, aus seiner Sicht brüsk ausgeladen hatte und er darüber so erbost war, dass er nicht teilnehmen wollte. Heike, seine damals angetraute Frau, hatte ich nämlich zuerst von allen Familienangehörigen eingeladen, sie ist die Mutter zweier unserer Enkelkinder und gehört bis heute selbstverständlich zur Familie.
Ohne es auszusprechen, hatte ich Suksan nicht in der Planung berücksichtigt. Ausschlaggebendes Argument für mich, dass sich die beiden Frauen bisher nicht über den Weg gelaufen waren, und die erste Begegnung sollte ausgerechnet bei dem Familientreffen stattfinden. Ich sah das nicht erprobte, brisante Aufeinandertreffen von Angehörigen, die sich zum Teil bislang niemals begegnet waren, unnötig belastet. Dass wir kein Problem mit Suksan hatten, wurde Jörg unmissverständlich vorsorglich gezeigt und sie schon mal zur bevorstehenden Feier zu seiner Mutters 70. Geburtstag, ein halbes Jahr darauf, eingeladen.
Jörg sah es anders und setzte uneinsichtig kraft seiner kompromisslosen Entschlossenheit ihre Teilnahme durch. Vor seiner Zusage die sattsam bekannten Vorwürfe, in diesem Fall hauptsächlich gegenüber dem Vater, Auseinandersetzungen, die wohl in keiner Familien mit Kindern fehlen. An erster Stelle meine gefühlt Äonen zurückliegende absolut deplatzierte Reaktion auf die Frage, wie ich denn seine neue Freundin Ute fände. „Das war wohl nichts“ (In seiner Erinnerung: „Dass sie wohl nix sei“), ist meine unverzeihlich unangemessene Antwort, die sich allein durch eine völlig falsche Standortbestimmung meinerseits erklären lässt: Ich hatte keinerlei Recht und Grund, meinen Maßstab anzulegen. Ute aus meiner Sicht, der eines angehenden älteren Herrn, zu beurteilen, war fraglos eine Fehlleistung. Ich hatte kaum ein Wort mit ihr gewechselt und dann diese grobschlächtige Antwort. Wie oft habe ich mich dafür entschuldigt, sie zu tiefst bedauert. Es half nichts, „denn eine Junge mit 17 Jahren vergisst nie, wenn sein Vater über eines seiner ersten Mädchen so etwas sagt – übrigens heute eine Frau, die schon vier eigene Patente angemeldet hat.“ Ich kann meine situativ unangemessene Reaktion nicht aus der Welt schaffen, dennoch kam ich nicht umhin, meinem Sohn zu schreiben: „Wenn die Liebe daran zerbricht, dass sich ein Elternteil alles andere als begeistert zum Objekt der Begierde äußert, dann kann es ja wohl nicht weit her gewesen sein mit der großen Liebe. Ich jedenfalls habe meine Mutter nicht gefragt, ob ihr mein Mädchen gefällt. Nun gut, du hast gefragt, und ich habe falsch reagiert.“
Viel mehr Zündstoff barg die Armeegeschichte. Ich, dank günstiger Umstände um einen Militärdienst herumgekommen, hatte Jörg zur Verpflichtung gedrängt, drei Jahre den ‚Ehrendienst in der Volksarmee zu leisten‘. Wie konnte ich den Jungen mit seinem empfindsamen Gemüt, seinen in der damaligen Zeit schulseitig kritisierten „individualistischen Tendenzen“ in die Zwangsjacke der Armee stecken wollen? Ja, wie konnte ich nur, und muss ich mir Vorwürfe machen oder mich gar entschuldigen? Nach den vielen Jahren wäre es gewiss keine Überwindung für mich gewesen.
Berechtigte Vorwürfe aus der Sicht meines Sohnes, obwohl sie im Laufe der Jahre in ein milderes Licht getaucht wurden. Reinigende Entschuldigungen, wie sie en vogue geworden sind, waren niemals gefragt. Um die damalige Problemlage einigermaßen korrekt zu erinnern, befrage ich den Betroffenen selber, Jahre nach dem Familientreffen und dem Entwurf dieses Kapitels. Danach stellt sich die missliche Geschichte folgendermaßen dar:
Wir waren aus Finnland und Jörg nach fast vierjähriger Unterbrechung in seine ehemalige Klasse zurückgekehrt. Trotz guter und sehr guter Leistungen hatte er aufgrund des vorgegebenen sozialen Schlüssels für die Erweiterte Oberschule gegenüber den Alteingessesenen wenig Chancen Du hast keine Chance, nutze sie! Verpflichtung nach dem Abitur, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Im Wissen, eine solche Verpflichtung eines Dreizehnjährigen kann nicht bindend sein, wurde von uns allen der rettende Strohhalm ergriffen. Als in der 11. Klasse erneut die Verpflichtungswelle anlief, schien uns der dreijährige ‚ Ehrendiens t‘ ein vertretbarer Kompromiss, 18 Monate waren ohnehin nicht zu umgehen. Außerdem winkten bessere Chancen bei der Studienplatzvergabe und ein angehobenes Stipendium. Ein Außenwirtschaftsstudium wurde greifbarer. Dass es unter dem Strich nichts mit diesem Traumfach vieler Abiturienten wurde, steht auf einem anderen Blatt, es hätte mich nachdenklich stimmen müssen. Der Sohn eines Abteilungsleiters in der Bezirksleitung der Staatssicherheit mit einem Leistungsdurchschnitt von 2,4 erhält das Wunschstudienfach, nicht mein Sohn mit seinen 1,3.
Drei Jahre Armeedienst hielt ich für zumutbar, musste mich aber durch meinen Sohn eines Besseren belehren lassen. Bis zum ersten Augenzeugenbericht hatte ich ein arg geschöntes Bild von der Nationalen Volksarmee, keine Ahnung von den misslichen Zuständen. Vieles von den Schikanen der Vorgängerarmeen preußischer Couleur gehörte offensichtlich zu dem öffentlich unterschlagenen Erbe: Bei Vergehen Scheuern mit der Zahnbürste, zusätzliches Robben im Schlamm, Mitwirken beim Datschenbau des Vorgesetzten, all das, was in dem Film NVA aus dem Jahre 2005 trefflich karikiert wird. Und was ich in seiner Tragweite dann nicht unterschätzt habe: Wer bei ‚der Asche diente‘ wurde bei den Mädchen ausgegrenzt, Uniformträger waren in den Diskos nicht erwünscht.
Auf Jörg, unseren wenige Tage vor Fuhrmanns Tochter Britta Erstgeborenen hatten wir bei dem Familientreffen auf keinen Fall verzichten wollen. Kinder müssen sich von den Eltern abgrenzen, bloß nicht einen Beruf wie den eurigen hatte er entschlossen formuliert. Sein Studium Islamwissenschaften und die nachfolgende Promotion boten ihm gute Chancen sich abzusetzen. Die Inanspruchnahme von V itamin B in Gestalt der Fürsprache von Mariannes Freundin Sara Wilsky, um einen der heißbegehrten Studienplätze bei den Regionalwissenschaften zu ergattern, schien uns angesichts des Militärdienstes durchaus vertretbar. Die Wende ließ Jörg nicht zuletzt wegen seiner Arabischkenntnisse beim Goethe-Institut in München landen, gewissermaßen setzt er unser DaF-Wirken fort.
Suksan kam mit. Der Verlauf des Treffens gab ihm Recht, meine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Weitgehend sprachlos schwebte Su gewissermaßen unauffällig mit ihrer wohlproportionierten Mädchenfigur zwischen den anderen hin und her. Jörg konzentrierte sich weniger auf seine Partnerin, vielmehr setzte er sich umsichtig für das Gelingen des Treffens ein. Selbst Heike kam mit der Situation zurecht, die Zeit der Tränen war vergangen, und die Enkelkinder fügten sich dem Lauf der Dinge.
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