Die Franzosen hielten den General Balaschow zunächst mehrere Tage hin, bis er von Napoleon empfangen wurde. Der müde, von Bonapartes Anblick etwas eingeschüchterte, vom anfangs freundlichen Tonfall des mächtigen Mannes zusätzlich überrumpelte General übergab den Brief und trug Argumente vor, die den russischen Friedenswillen zeigen sollten. Über seinen mündlichen Auftrag berichtet der Erzähler, dass Balaschow die zu überbringenden Worte des Zaren wörtlich im Gedächtnis hatte und an den Befehl des Zaren dachte, »doch ein verworrenes Gefühl hielt ihn zurück. Er konnte diese Worte nicht sagen, obgleich er es doch wollte.«2 Schließlich brachte er einen anderen Satz hervor, der nur Napoleons Rückzug hinter die Memel verlangte, aber die unbedingte Entschlossenheit des Zaren, keinen Kompromiss zu schließen, nicht angemessen wiedergab.
Tolstois Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass Balaschow vor der Begegnung mit Napoleon durchaus willens war, den Satz des Zaren befehlsgemäß zu überbringen. Jedoch konnte er es nicht. Balaschow wurde im entscheidenden Augenblick von einem unklaren Impuls, eben jenem »verworrenen Gefühl« beeinflusst und gehemmt. Er »wollte« zwar seine Pflicht tun, heißt es. Aber dieses »Wollen« war im entscheidenden Augenblick höchstens noch eine blasse Regung, es löste keine Handlung aus, es wurde nicht handlungswirksam, wie wir in der Philosophie sagen. Zu diesem Zeitpunkt war es daher kein Wollen im typischen, philosophisch eingebürgerten Sinn mehr, sondern nur noch etwas wie Sich-verpflichtet-Fühlen, Für-besser-Halten oder ähnlich. Stattdessen müssen wir den Text so deuten, dass in eben diesem Augenblick, als die Pflichterfüllung gefordert war, unter dem Einfluss jenes »verworrenen Gefühls« sich quasi im Spalt einer Sekunde ein schwächeres Wollen bildete. Dieses löste wirklich eine Handlung aus, nämlich dass der General einen milderen Satz sprach, als ihm aufgetragen war. Bonaparte erfuhr nichts von Alexanders fester Entschlossenheit, ließ gegen Balaschow noch eine Flut bramarbasierender Tiraden los, und seine Armee marschierte weiter – zur Verwüstung weiter Teile Russlands und in ihren eigenen Untergang.
Handeln aufgrund eines kurzfristigen eigenen Wollens, das die Person in langfristiger Perspektive und zu anderen Zeitpunkten selbst für falsch erachtet und missbilligt, findet sich allgegenwärtig und alltäglich. Es ist uns allen aus der Beobachtung unserer selbst wie auch anderer vertraut. Wir sprechen davon, dass viele Menschen dazu neigen, aufgrund temporärer Impulse zu handeln, welches Handeln dann später oft bereut wird. Wir sprechen auch von größerer oder geringerer Impulsanfälligkeit einzelner Personen. In der Psychologie wird darüber diskutiert unter dem Stichwort »impulsivity«3, in der Philosophie wird der Problemkreis seit den Griechen als » akrasia « alias »Unbeherrschtheit« (auch unrichtig »Willensschwäche«) abgehandelt.4 Dass es die Versuchung zum Tun des Falschen gibt und dass Menschen ihr häufig erliegen, gehört zu den elementaren Erfahrungen, die Personen mit ihrem Wollen und Tun machen können. Die Berichte darüber beginnen mit der Geschichte von Adam und Eva. Auch die griechische Epik und Dramatik sind voll von Beispielen dafür, und die griechische Philosophie hat sich des Themas früh angenommen. Es findet sich auch früh in anderen großen Schriftkulturen.
Der seinen temporären Impulsen ausgelieferte Mensch ist in dem Sinn unfrei , der anfangs dargestellt wurde: Er bringt es unter dem Einfluss solcher Impulse nicht zustande, seinen bei ruhiger Überlegung für richtig und bindend erachteten Handlungs-Leitlinien zu folgen. Vielmehr ereignet es sich, dass er von Zuständen der Furcht, der Nachgiebigkeit gegenüber den Erwartungen anderer, der Eitelkeit, eigenen Begierden, dem Wunsch nach Geld, oder irgendeinem anderen Impuls hingerissen wird. Der Mensch möchte wohl gern von dieser Anfälligkeit frei werden; aber insbesondere in den stark ausgeprägten Fällen müssen wir sagen, »er schafft es einfach nicht«, »er fällt immer wieder um«, er ist gar »wie ein Blatt im Wind«. Er bleibt oft zu seinem eigenen Leidwesen in dem anfälligen, durchaus als »unfrei« zu bezeichnenden Zustand, in dem wir ihn kennengelernt haben. Die Unfreiheit aus dem Unvermögen, zeitweiligen Anreizen zu widerstehen, die sich durchaus als kurzfristiges Wollen der Person selbst geltend machen, scheint mir die folgenreichste Form von Unfreiheit unter Menschen zu sein. Überwiegendes, kurzsichtiges Impulshandeln ist als »die niedrigste Form moralischen Lebens« beschrieben worden.5 Es ist nicht die sozial oft auch geschätzte Eigenschaft der Impulsivität im Sinn von Direktheit, Offenheit, Spontaneität, um die es hier geht, sondern vielmehr Impuls-Anfälligkeit . Eine impulsanfällige Person ist tendenziell unfähig, Handlungsanreize, die nicht zu ihrer vorher in eigener Überlegung entworfenen Handlungslinie passen, abzuweisen. Impulsanfällige Personen neigen dazu, sich solche Anreize kurzfristig zu eigen zu machen. Sie handeln dann im entscheidenden Moment der Form nach aus eigenem Antrieb. Allerdings ist dies oft ein Handeln, das die impulsanfällige Person in übergreifender Betrachtung außerhalb des entscheidenden Zeitfensters nicht für richtig halten kann und diese Handlungsweise auch nicht dauerhaft als ihr zu eigen haben will. Die zerstörerischen Wirkungen von Impulsanfälligkeit finden sich nicht nur kurzzeitig im Alltag. Sie können auch, wie bei dem Arzt Lydgate, Folgen für das Gelingen oder Misslingen ganzer Lebensläufe haben. Vergleichbares gilt – zwar nicht ausschließlich, aber doch häufig – auch für das gesellschaftlich und rechtlich relevante Abgleiten in Kriminalität und das Verharren in ihr.
Personeigene Freiheit zeigt sich in konkreten Situationen des Lebens als Freiheit gegenüber dem Druck temporärer Impulse und Freiheit zu den Handlungsweisen, die die Person bei situationsunabhängiger Überlegung von sich her billigt und als eigene Handlungsweisen will. Da absichtsvolles Unterlassen auch als Handeln gelten kann, ist solches Unterlassen überall da, wo hier von »Handeln« gesprochen wird, mit einbegriffen. Ja, mögliches Unterlassen und Nicht-Unterlassen-Können spielen im Kontext rechtlich relevanter Verfehlungen bis hin zur Kriminalität sogar eine vorrangige Rolle. Beides, frei wie unfrei im jetzigen Verständnis, sind wir nicht dauerhaft und für alle Zeit voraussagbar. Vielmehr sind wir beides immer mit einem unbestimmten Grad von Veränderlichkeit, der sich negativ wie positiv jederzeit bemerkbar machen kann.
Der General Balaschow besaß vor Napoleon sehr wohl die oft beschworene Freiheit des Handelns. Nichts in Tolstois Darstellung lässt darauf schließen, dass es äußere Umstände gab, die ihn am Ausführen seines Befehls gehindert hätten. Trotzdem heißt es, »Er konnte diese Worte nicht sagen«. Er besaß in diesem Augenblick nicht die personeigene Freiheit, die nötig gewesen wäre, um sich über das erwähnte »Gefühl« hinwegzusetzen und seine Pflicht zu tun. Stattdessen macht er von seiner Freiheit des Handelns eben den Gebrauch, der in ihrem Begriff liegt: Er tat, was er genau in diesem Augenblick tun wollte. Das heißt, er tat, was ein momentanes, in einem Sekundenbruchteil entstandenes, quasi feigeres Wollen gerade jetzt wollte, und sprach den schwächeren Satz. Wir können als sicher annehmen, dass sich der General über dieses momentane Wollen nicht schon zum gleichen Zeitpunkt Klarheit verschaffte. Tolstois Schilderung klingt, als überlegte Balaschow gar nicht, sondern handelte, das heißt sprach – nur sprach er das Falsche. Jenes »feigere« Wollen war trotz fehlender Überlegung gewiss ein Wollen. Denn es erlangte Wirksamkeit im Handeln, das heißt im Sprechen des Generals, und der General ist dafür Rechenschaft schuldig. Handlungswirksamkeit, alias Handlungseffizienz, ist das unterscheidende Merkmal des Wollens gegenüber bloßem Lieber-Mögen, Phantasieren, Sich-Erträumen und so fort.
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