Warum das Schneeglöckchen nicht erfriert
Vor langer Zeit gab der Schöpfer allen Dingen ihre Farbe. Der Erde schenkte er ein warmes Braun und den Himmel darüber färbte er in einem beruhigenden Blau, von dem sich die weißen Wolken hell absetzten. Das Gras ließ er saftig grün werden, sodass es die Weidetiere wegen seiner Farbe mit großem Appetit fraßen. Das kleine Schlüsselblümchen bekam ein freundliches Gelb, sonst hätte es jeder wegen seines niedrigen Wuchses übersehen. Bei der Rose gab sich der Schöpfer besondere Mühe und ließ sie in leuchtendem Rot erstrahlen, denn sie war die Blume der Liebenden. Man konnte sie von Weitem sehen und sie stach aus allem heraus. Die Glockenblume erhielt die weiße Farbe der Braut, was sie sehr erfreute.
Nur für den Schnee war keine Farbe übrig geblieben. Niemand nahm ihn deshalb wahr, denn man konnte ihn wegen seiner Farblosigkeit ja nicht sehen. Das machte dem Schnee das Herz schwer und er fing an zu weinen. Aber auch seine Tränen konnte niemand bemerken. Da überlegte sich der Schnee, alle, die eine Farbe bekommen hatten, zu fragen, ob sie ihm etwas von ihrer Farbe abgeben würden. Zuerst fragte er die Erde. Sie war schließlich eine Mutter und hatte wohl das größte Herz. Aber die Erde schlief tief und fest und konnte die Bitte des Schnees nicht hören. So bat der Schnee den Himmel um Hilfe, aber der wollte auf keinen Fall etwas von seiner Farbe abgeben, da die Wolken sein schönes Blau ohnehin oft genug verdeckten. Das grüne Gras wollte dem Schnee auch nicht helfen. Es war sowieso zornig auf die Weidetiere, die es abfraßen und seine Pracht zerstörten. Entmutigt und traurig schlich der Schnee zur Rose, die die Farbe der Liebe hatte. Aber die Rose war ein eingebildetes, stolzes Geschöpf und erklärte dem Schnee von oben herab, dass sie zu Höherem berufen sei, als ausgerechnet mit so etwas Nutzlosem wie dem kalten Schnee die Farbe zu teilen. Ohne sich auch nur im Geringsten rühren zu lassen, gab sie dem Schnee noch obendrein mit ihrer Dorne einen Stich, um ihn zu verjagen.
Verletzt und traurig zog der Schnee weiter. Das Schlüsselblümchen sah ihn schon von Weitem kommen und regte sich fürchterlich auf. Es wollte um keinen Preis etwas von seiner gelben Farbe abtreten, denn es hatte Angst, selbst dabei blass und unansehnlich zu werden. Blieb nur noch das kleine, weiße Glockenblümchen, das zur Freude aller in einem Gartenbeet blühte. Als der Schnee völlig am Boden zerstört diesem seine Bitte vorbrachte, war es von seinem Schmerz gerührt und hatte Mitleid mit ihm. Großherzig gab es dem Schnee von seiner weißen Farbe etwas ab. Da wurde der Schnee weiß und alle konnten ihn sehen. Und die Menschenkinder freuten sich an seiner Pracht. Dem Glockenblümchen aber machte der Schnee aus Dankbarkeit ein Geschenk. Er ließ es in den kalten Wintermonaten nicht erfrieren, sondern wärmte es, sodass es als einzige Blume im Winter blühen konnte. Schnee und Glockenblümchen sind seitdem unzertrennliche Freunde, was man auch an dem Namen Schneeglöckchen erkennen kann.
ANREGUNGEN:
Farbige Fotos (aus dem Internet) eines Ackers, des Himmels, einer Wiese, eines Schlüsselblümchens, einer Rose und einer Glockenblume, die während des Vorlesens nacheinander auf den Tisch gelegt werden, helfen, die Geschichte besser zu verstehen und vertiefen das Erinnern von Farben. Am Schluss kann ein Schneeglöckchen verschenkt oder ein Foto, wie dieses im Schnee wächst, zu den anderen Bildern gelegt werden.
Jetzt fängt das schöne Frühjahr an
Volkslied
2. Es blühen Blümlein auf dem Feld,
sie blühen weiß, blau, rot und gelb;
so wie es meinem Schatz gefällt.
3. Jetzt geh’ ich über Berg und Tal,
da hört man schon die Nachtigall
auf grüner Heid’ und überall.
Endlich war der Schnee geschmolzen. Schneeglöckchen, Krokusse in allen Farben und Märzenbecher kündigten den Frühling an. Hier und da wagten sich auch schon die Spitzen von Tulpen und Osterglocken aus der Erde. Die Luft war deutlich milder und Frühlingsdüfte weckten in Mensch und Tier neue Lebensgeister und machten gute Laune.
Katze Mulle hatte sich auf der Fußmatte vor der Haustür zusammengerollt und döste zufrieden in der Mittagssonne. Obwohl es erst Anfang April war, wärmte diese schon recht kräftig, was Mulle genoss und mit leisem Schnurren honorierte. Sie war trächtig und ihr inzwischen mächtig dicker Bauch lies erahnen, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis ihre Katzenkinder das Licht der Welt erblickten.
Frauchen Trude hatte für Mulle extra einen alten Wäschekorb für das bevorstehende Ereignis in der Scheune bereitgestellt und ihn mit Stroh und weichen Tüchern ausstaffiert, damit die Neugeborenen es warm und gemütlich hätten. Die Tage und vor allem die Nächte im April konnten noch recht frostig werden. Da brauchten Mutter und Tierbabys ein schützendes Nest. Mulle liebte ihr Frauchen über alles und wann immer sie Trude irgendwo entdeckte, lief sie auf sie zu, strich ihr werbend und maunzend um die Beine und erntete dafür prompt die ersehnten Streicheleinheiten. Am liebsten mochte Mulle, wenn man sie am Kopf zwischen ihren Ohren kraulte oder ihr sanft den Rücken massierte. Wenn Mulle am Abend auf Frauchens Schoß saß, schmiegte sie sich fest an Trudes Körper oder drückte ihren weichen Kopf an den von Trude, was ein besonderer Liebesbeweis war und nur zwischen Lieblingsmensch und Lieblingskatze vorkam. Nicht selten wurde Mulle von Trude mit einem kleinen Leckerbissen aus der Küche verwöhnt. Fisch oder gar eine Scheibe von der geräucherten Mettwurst fraß Mulle besonders gern. Aber Reste vom Mittagessen oder eine Schale Milch waren auch nicht zu verachten. Ansonsten besorgte Mulle sich ihr Essen natürlich selbst, schließlich gab es genug Mäuse auf dem Hof.
Ein lautes Gejaule vom Nachbarkater Rollo weckte Mulle aus ihrem Mittagsschläfchen. Dieser aufdringliche Kerl, der sich für den besten Sänger des Reviers hielt und ständig Miezen nachstellte, hatte ihr gerade noch gefehlt. „Nichts wie weg“, dachte Mulle. Aber mit dem schnellen Flüchten wollte das heute nicht recht klappen. Ein unangenehmes Ziehen meldete sich in ihrem gespannten Bauch und Mulle, die bereits eine erfahrene Katzenmutter war, wusste sofort, dass das Abenteuer Geburt vor der Tür stand. Der Weg in die Scheune zu Frauchens Korb schien Mulle zu weit und außerdem hatte sie sich ohnehin ein anderes Nest für ihre Jungen ausgesucht. Und so huschte sie wenig später, als die Haustür wegen des Briefträgers aufgemacht wurde, schnell ins Haus, quälte sich ohne ein Miau die steile Treppe zu Frauchens Schlafzimmer hinauf und sprang mit letzter Kraft in Trudes Bett.
Nach einer kurzen Verschnaufpause nahmen die Dinge ihren Lauf. Fünf kleine, maunzende, noch blinde und nasse Kätzchen suchten sich den Weg ins Freie und dann zu Mulles verheißungsvollen Zitzen, nachdem Mulle ihre Kleinen ordentlich trocken und sauber geleckt hatte. Mulle war erschöpft, aber stolz wie eine Menschenmutter. Sie ließ ihre Jungen großzügig gewähren, obwohl die kleinen Biester mit den tretenden Bewegungen ihrer Pfötchen ganz schön ihren Bauch malträtierten, um die Milch hervorzulocken. Schmatzend und saugend tankten die Babys Kraft und Mulle schnurrte sie dazu leise in den Schlaf.
Als Frauchen Trude am Abend zum Schlafen kam, staunte sie nicht schlecht über die Bescherung in ihrem Bett, der süße Anblick von Mulle und ihren Babys rührte sie aber so sehr, dass sie ausnahmsweise Mulle für eine Nacht ihr Bett überließ und mit dem Sofa in der Stube vorliebnahm. Am nächsten Tag allerdings wurde die frisch gebackene Katzenmutter mit ihren putzigen Jungen vorsichtig und sanft in den dafür vorgesehenen Korb in der Scheune umquartiert.
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