„Rasierschaum für Frauen. Setz dich hin und zieh die Schuhe aus.“
„Was?“
„Nun komm schon, du bist total angespannt, ich massiere dir die Füße!“
„Das wirst du ganz sicher nicht.“ Ich wandte mich ab, aber sie hielt mich zurück. Ich wusste, dass ich sie nicht abschütteln konnte, ohne ihr wehzutun. Sie ging mir ja gerade mal bis zum Kinn und war ziemlich klapprig. Niemand würde Verständnis dafür haben, wenn ich ihr den Arm brach, nur um sie loszuwerden.
Unsere Gruppe hatte sich bereits in der Dunkelheit der Nacht verteilt und stille Örtchen hinter dürrem Buschwerk gefunden.
In den Fahrzeugen, die am Straßenrand parkten, erkannte ich schlafende Fahrer. Ein verdunkeltes Wohnmobil, das etwas weiter hinten stand, wippte verdächtig.
Lisbeth zog mich zu einer Bank. Ich ließ mich darauf sinken und war erleichtert, als sie freiwillig ihren Klammergriff lockerte.
Ehe ich mich versah, hockte sie sich vor mich und begann, meine Schuhe aufzuschnüren.
„Ich weiß, dass du mich für eine durchgeknallte Spinnerin hältst, mein lieber Alexander“, sagte sie ruhig, „aber glaube mir, ich weiß, was ich tue.“
Sich gegen Lisbeth zu wehren, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, funktionierte nicht. Es war besser, sie und ihren messianischen Eifer einfach über sich ergehen zu lassen, als stundenlange Diskussionen zu riskieren, das hatte ich bereits gelernt.
Ich lehnte mich also zurück.
Ihr grauer Scheitel glänzte ein wenig im Mondlicht, die spindeligen Pipi Langstrumpf-Zöpfe, die sie trug, wippten neben ihrem Kopf auf und ab, als sie versuchte, es sich etwas bequemer zu machen.
Als sie mir die Socken von den Füßen streifte, stellte ich überrascht fest, wie warm ihre Hände waren. Sie griff nach der Dose, schüttelte sie kurz und energisch, dann sprühte sie sich etwas Schaum in die Handfläche.
Ich wollte sie fragen, warum sie sich solche Mühe mit mir gab. Unsere Wege würden sich trennen, sobald wir Faro erreichten – falls wir Faro erreichten. Der Ort lag in Portugal und das bedeutete, dass wir noch einen sehr langen Weg vor uns hatten. Der musste nach Adam Riese irgendwie auch über die Pyrenäen führen oder zumindest haarscharf an diesen vorbei, aber immer, wenn ich Lisbeth nach der geplanten Route fragte, lächelte sie nur und sagte: „Vertrau mir. Die Pyrenäen sind atemberaubend. Du wirst sehen.“
Natürlich würden sie atemberaubend sein, vor allem, wenn an diesem Klapperbus bergab die Bremsen versagten und wir mit Vollgas über eine Klippe schossen. Dem Sonnenaufgang entgegen.
Ich zuckte zusammen. Mein rechter Fuß versank mit der Ferse zuerst in einer Handvoll weißem Schaum.
Mein Reflex, ihn sofort wegzuziehen, wurde beinahe im selben Augenblick von dem Wunsch ausgehebelt, ihn in die ungewohnt wohltuende Empfindung hineinzupressen.
Überrascht starrte ich Lisbeths Scheitel an. Wie alt war sie eigentlich genau? Sie war ausgesprochen hager, fast dürr, als hätte sie erst vor kurzem eine schwere Krankheit überwunden. Ich würde sie fragen müssen. Nur nicht jetzt, denn jetzt kniete sie vor mir und umsorgte mich.
Ich wollte aber nicht, dass Lisbeth mich umsorgte. Ich wollte wütend auf sie sein dürfen. Wütend darüber, dass sie mich mit ihrer verlogenen Anzeige angelockt hatte, diese als „Busfahrt“ getarnte Höllenfahrt zu buchen.
Ein leises Stöhnen entfuhr mir, als sie den Druck auf meine Ferse erhöhte. Ich verspürte den Drang, das Kreuz durchzudrücken, ein wenig meine Sitzposition zu verändern. Mir war, als würde mein Steißbein vor Wonne quietschen. Es hatte an der harten Federung der ausgelutschten Bus-Stoßdämpfer in den letzten Stunden entsetzlich gelitten, aber das schien ja niemanden zu interessieren.
„Schließ die Augen und entspanne dich“, befahl Lisbeth in ihrer unnachahmlich bestimmenden Art, und ganz entgegen meiner skeptischen und rebellischen Natur gehorchte ich sofort.
Ihre Finger fuhren sanft aber bestimmend hin und her, ihr Daumen presste mal hier und mal dort, glitt durch den warm gewordenen Schaum und massierte ihn in meinen verknöcherten rechten Fuß.
Die Geräusche der Nacht umsurrten mich. Das ständige Schnurren von Autos, die nur wenige Meter von uns entfernt heranbrausten und sich wieder entfernten, erinnerte mich an Wellen, die unaufhörlich an einen Strand brandeten, nur um sich wispernd wieder ins Meer zurückzuziehen.
Hinter mir zirpten Grillen, ich hörte das Knirschen von leisen Schritten, als Schorschi und die anderen schweigend auf dem schmalen Kiesweg hinter meiner Bank hin und her liefen, um sich die Beine zu vertreten. Versunken in ihre Gedanken zogen sie ihre kleinen Runden, bemüht, die Fahrer der anderen Wagen nicht zu wecken.
Lisbeths Daumen kreiste unterhalb meines Fußballens und eine wohlige Wärme begann sich in meinem Magen auszubreiten. Hatte ich mich eben noch zum Kotzen gefühlt und meine missliche Lage verdammt, so schien sich irgendetwas in mir plötzlich zu entspannen, schien ich mich von innen heraus zu öffnen: für meine Situation und vor allem für Lisbeth, die mit ihren alten Knochen vor mir auf dem schmalen Asphaltstreifen auf ihrer Strickjacke kniete und meine Füße mit Schaum einrieb.
Meine Güte, tat das gut! Ich hatte plötzlich das Gefühl, als könnte ich zum ersten Mal seit vielen Stunden frei durchatmen.
Als der olle Bus vor meiner Wohnung am Straßenrand gehalten hatte und ich begriff, dass ich einen mächtigen Fehler gemacht hatte, hatte sich ein eiserner Ring um meine Brust gelegt, nun flog er lautlos auseinander und ich atmete tief ein und aus.
Ich spürte, wie ein Lächeln über mein Gesicht glitt, als Lisbeths Finger meine Zehen berührten, als ihre Hand sie warm und fest umschloss.
Ich hatte mich eigentlich immer für kitzelig gehalten, aber als sich ein Lachen in meiner Brust bildete, das an die Oberfläche drängte wie eine glucksende Quelle, hatte dies nichts mit kitzeliger Überempfindlichkeit zu tun, sondern eher mit Glück, das sich einen Weg bahnte in meine Augen, in meine Stimme, in meine Ohren. Alle meine Sinne vibrierten.
Ich hielt die Augen geschlossen und wünschte mir, Lisbeth würde nie mehr aufhören, meinen Fuß mit ihrem nach Melone duftenden Frauenrasierschaum einzureiben. Aber genau in diesem Moment tat sie es doch.
Fast wollte ich enttäuscht den Kopf heben, der mir in meiner Entspannung tief auf die Brust gesunken war, da nahm sie meinen linken Fuß in ihre Hände.
Warum nur tat sie dies für mich?
Die Antwort lag auf der Hand.
Ich war so aggressiv und angespannt gewesen, seit wir Rolf aus der Klinik wieder mitgenommen hatten, da hatte sie zu recht befürchtet, ich könnte nicht nur die Kontrolle über mich, sondern auch über den Bus verlieren. Dass sie das nicht zulassen konnte, verstand sich von selbst. Dass sie zu dieser ungewöhnlichen Methode griff, um mich wieder runterzuholen, war alles andere als selbstverständlich.
Während ihre Hände die Innenseiten meiner Ballen massierten, durchflutete mich Dankbarkeit.
Wie war es nur möglich, dass mich dieses magere Althippie-Weibchen so überraschen konnte? Ich hatte ihr nicht genug Verstand zugetraut, von eins bis zehn zu zählen. Oder von siebzig bis achtzig.
Und jetzt saß ich auf einer Bank auf einem namenlosen französischen Rastplatz südlich von Nirgendwo und hatte das tiefe und dringende Bedürfnis, die alte Frau vor mir in die Arme zu nehmen.
Ich konnte mich gerade noch beherrschen. Stattdessen legte ich den Kopf mit geschlossenen Augen tief in den Nacken und stöhnte noch einmal leise auf.
„Danke“, flüsterte ich.
„Gern geschehen“, sagte sie, dann nahm sie das Tuch, das sie mitgebracht hatte, und trocknete erst den einen und dann den anderen Fuß.
Ich öffnete die Augen, traurig, dass es vorbei war. Der Duft von Melone stieg in meine Nase und fast ein wenig widerwillig beugte ich mich vor, um mir die verschwitzten Strümpfe überzustreifen und meine Schuhe wieder anzuziehen.
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