Denn eines muss gesagt sein: Beim schamanischen Erleben geht es wie beim ernsthaften Einschlagen jedes anderen spirituellen Wegs immer um alles oder nichts. Nur aus Neugier zu »schamanisieren« ist nicht möglich, man muss auch bereit sein, die Konsequenzen für sein Handeln zu ziehen. Wer ernsthaft eine Frage stellt, riskiert immer, eine Antwort zu erhalten. Wer ernsthaft um etwas bittet, muss damit rechnen, dass er es auch bekommt. Das gilt insbesondere auch für die fortgeschrittene schamanische Arbeit.
Die Frage nach der Religiosität
Befürchten Sie, dass die schamanische Arbeit mit Ihrer religiösen Einstellung unvereinbar ist?
Wenn Sie sich in diesem Punkt nicht sicher sind, dann lesen Sie noch einmal das Kapitel »Schamanismus und Religion«, bevor Sie weitere Reiseversuche unternehmen. Gegen Ihre religiöse Überzeugung schamanisch reisen zu wollen, funktioniert jedenfalls nicht. In einem schamanischen Basisseminar begegnete mir einmal ein katholischer Moraltheologe. Er erkannte bereits nach dem ersten Tag: »Wenn ich nur beobachtend dabeisitze, erfahre ich über Schamanismus gar nichts. Aber aktiv mitmachen? Darf ich das denn als praktizierender Christ?« Am folgenden Sonntag ging er morgens ins Hochamt und fragte in stillem Gebet den Heiligen Geist, um seine Zweifel zu beseitigen: »Darf ich Schamanismus praktizieren?« Die Antwort war: »Sicher. Was meinst du, was du jetzt gerade tust?«
Schamanisches Reisen setzt die Bereitschaft voraus, dem, was einem dabei möglicherweise begegnet, wirklich ins Auge schauen zu wollen. Es zeitigt mehr oder weniger einschneidende Konsequenzen für das eigene Leben.
Die Frage nach dem sozialen Umfeld
Befürchten Sie, dass Ihr persönliches Umfeld - Familie, Freunde und Arbeitskollegen - Ihre schamanischen Gehversuche ernsthaft ablehnen würde?
Wenn das der Fall sein sollte, Sie aber eine derartige Ablehnung nicht ertragen können, dann müssen Sie sich für das eine oder das andere entscheiden, bevor Sie weitermachen. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen aus Ihrem Umfeld bereit sein werden, Ihren Weg zu respektieren, wenn Sie diesen nur entschieden genug vor sich selbst und Ihren Lieben vertreten.
Die Frage nach dem Selbstbewusstsein
Ist es möglich, dass Ihr Selbstbewusstsein nur schwach ausgeprägt ist und Sie sich der Reise einfach nicht gewachsen fühlen? »Wahrscheinlich können es wieder einmal alle, ich aber ganz bestimmt nicht.«
Wenn Sie diese Frage mit Ja beantworten, dann bin ich ganz und gar nicht davon überzeugt, dass Sie nichts erlebt haben. Vielleicht sind Sie nach dem Eingang in die untere Welt lediglich in einen dunklen Raum geraten, aus dem Sie sich in Ihrer selbst auferlegten Bescheidenheit nicht heraus getraut haben. Versuchen Sie es weiter! Und achten Sie auf jede Kleinigkeit. Vielleicht sehen Sie das erste Mal ganz flüchtig ein paar Augen im Dunkel, vielleicht ahnen Sie ein unterirdisches Labyrinth mehr als Sie es sehen. Langsam aber sicher werden Ihre Reiseerlebnisse deutlicher und stärker werden.
Die Frage nach der Vorstellungskraft
Verfügen Sie über eine sehr lebhafte Phantasie, und können Sie gut visualisieren, also vor Ihrem inneren Auge willentlich Bilder wachrufen?
In diesem Fall laufen Sie wahrscheinlich Gefahr, alle schamanischen Reiseerlebnisse als bloße Produkte Ihrer eigenen Vorstellungskraft abzutun. Kümmern Sie sich nicht darum, wo Ihre Phantasie aufhört und das eigentliche Reisegeschehen beginnt. Später merken Sie das ganz von selbst und lernen beides sehr gut unterscheiden.
Eines der ersten Erlebnisse des Ritters Owein war ein dunkler, kellerartiger Raum, in dem er sich wiederfand. Mancher angehende Schamane hat es bei seinen ersten Gehversuchen tage- und wochenlang mit solchen Räumen zu tun. Dabei handelt es sich um eine wichtige und notwendige Entwicklungsphase.
Die Frage nach der sinnlichen Qualität der Erlebnisse
Haben Sie vielleicht etwas anderes erlebt als Sie erwartet haben und deshalb die Reise als Ganzes angezweifelt?
Manche Menschen glauben, vor ihrem geistigen Auge müsste eine Art lückenloser Spielfilm ablaufen. Sie sind dann enttäuscht, »nur« einzelne blitzlichtartige Standbilder oder überhaupt nichts gesehen zu haben. Vielleicht fühlten Sie nur einen kalten Luftzug und hatten einen bestimmten Geruch in der Nase. Auch das sind schamanische Reiseerlebnisse.
Lassen Sie alle vorgefassten Meinungen darüber fallen, wie eine schamanische Reise verlaufen könnte. Vielleicht wünschten Sie sich, durch einen Brunnenschacht in eine blühende Landschaft zu gelangen und fanden sich stattdessen auf der Rolltreppe eines U-Bahnhofs wieder. Sie sagten sich dann sofort: »Aber das will ich doch gar nicht.« Und schon war Ihre Reise zu Ende, bevor sie beginnen konnte. Nehmen Sie alles so, wie es kommt, und wenn Sie es nicht mögen oder verstehen, wie es ist, dann fragen Sie nach, warum Sie dies und nichts anderes erleben. Irgendjemand wird erscheinen und Ihre Fragen beantworten.
Die Frage nach spirituellen Alternativen
Haben Sie vielleicht bereits einen anderen spirituellen Weg gefunden, der Ihnen mehr liegt als Schamanismus, beispielsweise Zen-Meditation oder Raja-Yoga?
In diesem Fall möchte ich Ihnen empfehlen, auf Ihrem Weg zu bleiben. Verzetteln Sie sich nicht. Man kann einen Berg nicht auf zwei Wegen gleichzeitig besteigen.
Die Frage nach den äußeren Begleitumständen
Haben Sie Ihre Reiseversuche vielleicht unter innerem oder äußerem Stress durchgeführt? Waren Sie unter Zeitdruck, weil Sie gerade Besuch erwarteten? Oder litten Sie unter Kopfschmerzen oder Migräne, die Ihre Reise störten?
Am besten beginnt man schamanische Reisen in einem entspannten Zustand. Unter Stress ist Reisen besonders für Anfänger schwierig.
Die Frage nach Erfahrungen mit Nirwana-Meditation
Sind Sie erfahren in Nirwana-Meditation? In diesem Fall müssen Sie sich wahrscheinlich erst umgewöhnen. Schamanisches Reisen bedeutet nahezu das Gegenteil Ihrer bisherigen Meditationserfahrungen. Ging es bei Ihren bisherigen Bemühungen darum, Ihr Bewusstsein weitestgehend zu entleeren, so kommt es jetzt auf intensives Erleben an.
Nirwana bedeutet soviel wie verwehen, erlöschen. Der Begriff aus der buddhistischen Lehre bezeichnet das Heilziel dieser Religion. Nirwana ist der Zustand des Erlöstseins, der Überwindung allen Strebens und allen Leides.
Die Frage nach den bisherigen Antworten
Konnten Sie alle vorhergehenden Fragen aufrichtig mit Nein beantworten, und haben Sie trotzdem nichts erlebt?
Dieser Fall ist so selten, dass ich Sie bitten möchte, die zwölf Fragen noch einmal sorgfältig durchzugehen und genau zu prüfen, ob sich nicht vielleicht doch ein unzutreffendes Nein eingeschlichen hat.
Erst wenn das ganz bestimmt nicht der Fall ist, können Sie unverändert mit Ihren Reiseversuchen fortfahren. Wahrscheinlich wird Ihre Geduld dabei aber auf eine äußerst harte Probe gestellt. Ich habe einige wenige Menschen kennen gelernt, die jahrelang immer wieder vergeblich schamanische Reiseversuche unternahmen. Dann, auf einmal, stellte sich unvermittelt der Erfolg ein. Oft erweisen sich solche Menschen später als besonders befähigt für schamanische Arbeit. Denn nicht jeder ist das in gleichem Maß.
Einen neuen Versuch unternehmen
Wer sich mit seinen ersten schamanischen Reiseversuchen schwer tut, kann ein bisschen mit der Methodik spielen. Variieren Sie beispielsweise die Trommelfrequenz. Oder versuchen Sie es ohne Trommel, beispielsweise begleitend zu einer monotonen rhythmischen Körperbewegung wie Jogging.
Beginnen Sie in diesem Fall anstatt einer Exkursion in die untere Welt mit einer Mittelweltreise. Dazu schließen Sie die Augen und stellen sich zu den Trommelklängen einen gut bekannten Weg vor. Legen Sie ihn im Geist zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto zurück, so wie Sie es im Alltag gewohnt sind. Achten Sie unterwegs darauf, was sich Ihnen anders präsentiert als im Alltag. Vielleicht trägt der Paketbote an der Straßenkreuzung auf Ihrer Reise keine braune Uniformjacke wie üblich, sondern ein langes gestreiftes Nachthemd. Vielleicht begegnen Ihnen Autos mit fünf Rädern. Wenn das der Fall ist, schleichen sich ganz langsam erste schamanische Elemente ein. Und bald werden Sie reisen können.
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