Wieder im Sattel führt der Weg weiter bergab. Links der Bach in seiner immer größer und tiefer werdenden Schlucht, rechterhand zieht dichter Wald nach oben und lässt uns wenig Raum. Hier geht es aber nicht anders, und als wir wieder vom Gewässer abdrehen und versuchen, den besten Weg im Gänsemarsch durch den Wald nach unten zu finden, kommt der Tross zum Stehen. David ruft nach der Motorsäge und Axt. Das hatten wir schon mehrfach, aber dieses Mal sieht es ziemlich wüst aus, was da vor uns über- und durcheinander den Weg versperrt. Außerdem ist der Hang ziemlich steil, durch den Regen rutschig geworden und mit vielen dicken Wurzeln durchsetzt. Wir Männer sitzen ab, stellen die Pferde quer und helfen David und Paul in den nächsten dreißig Minuten das Windbruch-Chaos soweit zu beseitigen, dass auch die Packpferde durchkommen. Die restlichen Stunden verlaufen unkompliziert. Wir reiten zunächst durch ein langes Tal, dann über eine letzte Anhöhe und erreichen das Smoke House am Tanya Lake bei schönstem Sonnenschein. Auf den letzten Kilometern nach hier wurden auch die Schritte unserer Pferde immer freier. Sie waren zwar in diesem Jahr noch nicht hier, aber sie kennen die herrlichen Wiesen, die sie hier erwarten. Wir sehen das mit einem lachenden und einem weinenden Auge, weil unser Ritt hier zu Ende geht. Wir würden gern noch weitermachen, ohne Wenn und Aber, und ohne Ausnahme. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir heute das Wetter aller vier Jahreszeiten kennengelernt haben und wissen, dass das jederzeit wieder so sein könnte. Wirklich gestört hat es uns aber nicht, und es war auch unter diesen Bedingungen eine runde Sache und ein toller Tag, so wie der gesamte Ritt.
Die Schwarzen Berge, das Mackenzie-Tal und der Grease Trail, auf dem einst die Küstenindianer mit Fischöl ins Innere des Landes zogen, um ihre Ware gegen Felle einzutauschen, waren Stationen, der Tanya Lake unser Ziel. Dazwischen lagen alpine Wiesen, Sümpfe, Bäche, Flüsse, Wasserfälle, Geröll- und Steinfelder, tiefste Wälder, Schluchten, steilste Hänge, Moränen, glatter Fels, dichtes Unterholz, Hochebenen mit Weidenbüschen, die Ross und Reiter verdeckten oder die Rainbow Mountains, eine Droge, die die Augen beruhigte. Unser Weg war voller Stille, Schönheit, Weite und menschenleer. Unsere Pferde, die keinen Stall kennen, waren großartig. Auf der Hinterhand rutschten sie mit absoluter Sicherheit in tiefe Gräben, oder übersprangen sie, wenn ihnen das ratsamer erschien. An Hängen mit Wurzeln, Steinen, Baumstämmen waren sie in der Lage, ihre Richtung mit dem nächsten Schritt um 180 Grad zu ändern, und dennoch sicher aufzufußen. Wurde es abwärts glitschig, kannten sie die Festigkeit des Gebüschs und wichen nach dort aus. Stets aber vorsichtig, und nur in der Not mit einem ordentlichen Satz. Und hatten sie am Wasser Flussbettzustand und Tiefe erkannt, ging es mit aller Ruhe zielstrebig weiter. Diese Pferde, Quaterhorses oder Kreuzungen mit ihnen, waren in keiner Situation hektisch oder unsicher, und eigentlich suchten sie sich ihren Weg ganz allein. Ihre Tritt- und Geländesicherheit, ihre Ruhe waren verblüffend. „Reiten können“ muss man nicht unbedingt, um sich mit ihnen die Natur zu erschließen. Es reicht, mit Pferden vertraut zu sein, oder ihnen das Vertrauen ganz einfach nur zu schenken. Normal gute Fitness, keine Angst und sich den rustikalen Gegebenheiten anpassen zu können, sind für ein solches Abenteuer jedoch unerlässlich. Morgen- und Abendtoilette am Bach und im Busch gehörten ebenso zum Erlebnis, wie die Nachbarschaft zu Bären und Elchen und die Abende am Lagerfeuer, wenn nach getaner Arbeit so manche Geschichte die Runde machte. Von David erfuhren wir sehr viel über seine Vorfahren und Ansichten zur Natur und ihren Geschöpfen. Und wir stellten fest, dass nicht nur ein Europäer von diesem großartigen Charakter noch sehr viel lernen kann.
An diesem Abend wird das „Smoke House“ – neun Jahre später fast zugewachsen – zum Mittelpunkt unseres Camps. „Haus“ ist übertrieben, denn das mit Rindenschindeln abgedichtete Baumstammdach ruht lediglich auf acht Pfählen, vielmehr gibt es nicht. Die Tanya Lakes jedoch, auch bekannt als Long Lakes, waren etwa viertausend Jahre lang für die Ulkatcho Indianer und ihre Nachbarn ein wichtiger Treffpunkt, wenn in jedem Juli die Steelheads und Spring-Salmons vom Dean River kommend den Takia hochschwammen, um ihre Laichplätze zu erreichen. Dann versammelten sich die Ureinwohner an den Fällen, um ihren jährlichen Fischbedarf, der an Ort und Stelle geräuchert und getrocknet wurde, zu decken und feierten auch ein großes Fest. Sie kamen sogar von so weit entfernten Orten wie Nazko und Kluskus im Osten, von Burns Lake und Choslatta im Norden, vom Chilcotin im Süden und Bella Coola im Westen. Der Fischfang galt gleichzeitig auch als wichtiger sozialer Treff, denn das ganze Jahr über lebten diese „Native People“ in kleinen, isolierten Familiengruppierungen. Hier konnten sie sich ihre Geschichten teilen, handeln, und ihre traditionellen Spiele und Riten gemeinsam zelebrieren. Damit wurden diese Seen für sie auch zu einem wichtigen kulturellen Ort. Als Chief Jimmy Stillas, der letzte Häuptling der Ulkatchos, 1987 diese ererbten, traditionellen Rechte seines Volkes auch öffentlich geltend machte, campten mehr als zweihundert Leute seines Stammes eine ganze Woche lang am See und feierten ihr Fest.
Das Smoke House hat sich seit damals auch kaum gewandelt. Unter seinem Dach hängen nur einige neue Utensilien, die David oder Wanderer nach hier brachten, wenn sie unter ihm rasteten, um danach ihren Weg auf dem nahen „Mackenzie Heritage Trail“ fortzusetzen. Dessen 420 Kilometer beginnen in der Nähe von Quesnel am Blackwater River und erreichen nach 300 Kilometer durch das Interior Plateau auch den Tweedsmuir Park, den er am Highway 20 wieder verlässt, um Bella Coola zu erreichen und den letzten der 1.800 Höhenmeter hinter sich zu bringen. Für die restlichen 65 Kilometer der historischen Route braucht man dann allerdings ein Boot, denn der Sir Mackenzie Provincial Park, der den „Mackenzie Felsen“ schützt, liegt am Nordufer des Dean Channels. 2010 hatten wir diesen Felsen auch auf dem Programm, aber als unsere Fähre in Ocean Falls ankerte, hatte der Himmel alle Schleusen geöffnet und machte diesen kurzen Ausflug unmöglich. Der landschaftlich schönste Abschnitt auf dem „Mackenzie-Pfad“ sind jedoch die 80 Kilometer durch den „Tweedsmuir“, wo der Wanderer im Juni und Juli aber noch mit Schneefeldern und vollen Flüssen rechnen muss. Diese Tour ist allerdings eine schwere, und eine genaue Beschreibung gehört so zwingend ins Gepäck, wie die zahlreichen Abschnittskarten und ein GPS-Gerät. Mackenzie folgte diesen Indianerpfaden 1793 und erreichte das Bella Coola Tal nach vierzehn Tagen. Für ihn war es der letzte Abschnitt, um Kanada komplett, von „See zu See“, auf dem Landweg durchquert zu haben. Heute folgen begeisterte Wanderer seinen Spuren, die sich Teile, abzweigende Touren oder auch den gesamten Weg, den auch erfahrene Buschmarschierer nicht unter drei Wochen schaffen, zum Ziel setzen. Dank der Wasserflugzeuge lassen sich Ein- oder Ausstieg zwar wesentlich erleichtern, und auch bärensichere Verpflegungsdepots anlegen, doch der Tweedsmuir-Provinzpark ist reine Wildnis und nichts für „Anfänger“ ohne Führer. Hitze, Schneesturm, Regen, schweres Gelände und Flussdurchquerungen sind aber auch dann zu überstehen, um diese Herausforderung als großartiges Erlebnis zu meistern.
Der Standplatz des Smoke Houses war strategisch gut gewählt, weil sich hier einige der wichtigsten Indianerpfade früherer Zeit treffen. So gehören der „Nuxalk Carrier Grease Trail“ und der „Rainbow Valley Trail“, die beide von den Pfaden „Ulkatcho Bella Coola “ und „Salmon House“ gekreuzt werden, heute zur „Mackenzie Heritage Route“. Und warum „Grease Trail“? Weil über diese Pfade das Fischöl der Küstenindianer in das Innere des Landes getragen wurde, das als Nahrung oder Medizin Verwendung fand. Gewonnen wurde es von dem zwanzig Zentimeter langen „Euchlachon“ (silberne Seiten, brauner bis schwarzer Rücken), den die Eingeborenen auch „Saviour-Fish“ (Retter, Erlöser) nannten, weil er der erste war, der nach einem langen Winter die Flüsse hochschwamm und das Hungern beendete. Die ersten Siedler bezeichneten diesen Dünnling, der, im getrockneten Zustand wie eine Kerze fungierte, auch Candle-Fish.
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