„Als ich dreizehn Jahre alt wurde, fuhren meine Eltern mit meinem Bruder zu einer Gartenparty. Auf dem Weg dorthin verunglückten sie. Alle drei verstarben noch an der Unfallstelle. Mein Stiefvater besaß keine weiteren Verwandten, soviel ich weiß und von Mutters Seiten wollte mich keiner haben, weil ich ein Kuckucksei war.“
Sein Blick wurde starr.
„Gott nahm mir meine gesamte Familie, wenn es auch nie eine richtige war. Vor allem aber hat er mir meine Mutter genommen, die sich als einzige wirklich liebevoll um mich kümmerte bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Ab da übernahmen Doreen und Richard meine Erziehung. Bei ihnen konnte ich mich auch nicht beklagen, denn sie liebten mich wie einen eigenen Sohn. Und sie tun es heute immer noch. Mit achtzehn Jahren bekam ich die Banken übertragen. Plötzlich wurde ich, das Kind, das immer auf die Seite geschoben wurde, zum Multimillionär. Ein Glück, dass mein Stiefvater so gut ausgebildete Manager besaß, die alles in seinem Sinn weiterführten, bis ich alt genug war, sein Imperium zu übernehmen. Nur, ich hatte keine Ahnung vom Bankwesen. Ich wurde ja gar nicht als Erbe vorgesehen. Notgedrungen musste ich eine Kurzausbildung machen, so dass ich im groben Umfang verstand, um was es ging. Doch die Hauptaufgaben übernahmen immer noch die Manager. Trotzdem glaube ich sagen zu können, dass ich heute mehr davon verstehe, als mein Bruder damals. Doch mit Zahlen allein wollte ich mein Leben nicht zubringen und so studierte ich Veterinärmedizin zum Ausgleich.“ Erschöpft schloss er für kurze Zeit seine Augen.
„So, nun wissen Sie, warum ich nicht mehr bete. Gott hat mir alles genommen, was ich besaß. Und jetzt kann ich nicht mehr laufen und habe außerdem noch diese abscheuliche Leukämie am Hals. Für was alles bestraft er mich denn noch? Die vielen Millionen bedeuten mir nichts. Lieber wäre ich arm, aber gesund“, murmelte er kaum hörbar die letzten Sätze und schloss die Augen, doch er schlief nicht.
Eine große Stille trat ein. Nach einer Weile erkundigte sich Christin ganz leise: „Wie oft haben Sie das Grab Ihrer Familie besucht?“
„Nur bei der Trauerfeier“, knurrte Brandon und drehte sein Gesicht weg von ihr seitlich ins Kopfkissen hinein.
„Ich glaube nicht, dass Gott Sie verlassen hat, sondern Sie haben ihn verlassen, wenn Sie nicht mal mehr die Gräber besucht haben, um zu beten“, ließ sie ihn wissen.
Brandon holte tief Luft und wollte ihr heftig entgegnen, doch plötzlich erkannte er den Sinn ihrer Rede. Er stieß die Luft wieder aus. Seine Augen hielt er geschlossen. Lange Zeit dachte er darüber nach, als Christin flüsterte: „Ich habe meinen Bogen in den Himmel gesetzt, zum Bündnis der Menschen mit mir.“ Sie wandelte den Spruch etwas ab, damit er es besser verstand. Sanft nahm sie seine Hand in ihre.
„Gott ist immer da, auch bei Ihnen, selbst wenn Sie es nicht wissen. Er leitet eines jeden Menschen Wege, gute und weniger gute. Nur er weiß, dass alles seinen Sinn hat.“ Die Nonne erhob sich.
Da hielt sie Brandon an der Hand zurück. „Habe ich denn alles falsch gemacht?“, flüsterte er.
„Vielleicht nicht alles, wohl aber vieles. Doch ist es nie zu spät zur Umkehr“, antwortete sie. „Gott wird Ihnen verzeihen, weil er ein Gott der Liebe ist.“ Damit ging sie durch die Verbindungstür in ihr Zimmer.
Wie kann man nur so einen unerschütterlichen Glauben haben, dachte er.
Gordons Auto hatte sich so tief in den Schlamm und den Sand der Auffahrt gewühlt, dass Richard zwei Monteure von der nächsten Autowerkstatt anfordern musste. Sie teilten dem Arzt gleichzeitig mit, dass eine Reparatur Unsummen kosten würde und für ein achtzehn Jahre altes Auto nicht mehr rentabel sei. Wo jetzt so schnell ein neues oder auch gebrauchtes Auto herbekommen? Da übergab ihm Brandon einige Schlüssel zu seinen eigenen Autos. Er besaß mehrere davon.
„Du kannst eines von meinen Autos haben. Suche dir eines aus. In der Garage stehen genug herum. Ich werde sowieso nicht mehr damit fahren können“, bot er ihm an.
Gordons Freund stach schon immer heraus als ein Mensch, der gern andere beschenkte oder ihnen kostenlos seine Hilfe anbot. So auch jetzt wieder.
Gordon fuhr am Sonntagmittag los, in Richtung Kloster Heilig Geist. Er brauchte jetzt nur mehr die halbe Zeit, da dieses Fahrzeug viel mehr PS und eine moderne Ausstattung besaß.
Bei seiner Tante unterschrieb er den Arbeitsvertrag und trat am Montagmorgen seinen Dienst an. Melissa hatte bereits alle intravenösen Spritzen und Infusionen bereitgelegt, denn jetzt übernahm Gordon diese Tätigkeit. Während der Visite kamen sie auf ihrem Rundgang in ein Zimmer, in dem drei kleine Mädchen lagen. Allesamt krebskrank. Die kleine Anne mochte kaum sechs Jahre alt sein. Ihr fehlten in der oberen Zahnreihe zwei Zähne und so lispelte sie etwas, wenn sie sprach. Als sie den großen Arzt mit der Spritze in der Hand sah, verließ sie aller Mut.
„Gibst du mir jetzt die Spritze? Bei Melissa hat es gar nicht wehgetan“, erklärte sie ihm gleich. In ihr sträubte sich alles. Am liebsten hätte sie verlangt, dass Melissa, wie immer, die Spritze verabreichte. Ihr kleines Gesichtchen wirkte ängstlich und abweisend.
„So, so, und du glaubst ich kann das nicht genauso gut?“, entgegnete der Kinderarzt.
Doch Gordon benutzte da seine eigene Ablenkungstherapie. Aus der Tasche seines weißen Arztmantels holte er ein kleines, kuscheliges Stoffeichhörnchen hervor. Er setzte sich auf den Bettrand und begann eine lustige Geschichte vom Eichhörnchen „Marlina“ zu erzählen, die er sich gerade ausgedacht hatte. Nebenbei spritzte er das Medikament, ohne dass die Kleine etwas bemerkte.
„So, wir sind schon fertig“, lächelte Gordon und erhob sich.
„Es hat überhaupt nicht wehgetan!“, rief das Kind. „Der neue Doktor kann das genauso toll wie Melissa“, informierte sie sofort ihre zwei Zimmergefährtinnen.
Die Ordensschwester widmete sich jetzt mehr dem Stationsdienst, um nur ja jede Minute mit Gordon auszukosten. Beinahe kam ihre Schreibarbeit als Stationsschwester zu kurz und deshalb musste sie so manches Mal länger in der Klinik bleiben, um alles aufzuarbeiten. Die Mutter Oberin behielt das Ganze eine Weile im Auge und sie war eine sehr scharfe Beobachterin. Jetzt erkannte sie auch, warum ihr Neffe so schnell zugesagt hatte. Der Grund konnte nur Melissa sein.
Sie, ein Mischlingskind, kam im Alter von fünf Jahren zu ihnen ins Waisenhaus. Ein Autounfall, die Eltern starben, Melissa trug nur einen Armbruch davon. Da sie keiner in der Verwandtschaft aufnehmen wollte, wegen ihrer dunklen Hautfarbe, blieb sie im Kloster. Die Familie schämte sich ihrer. Das trug sich damals im Herbst zu. Drei Monate später fand das Mädchen am Heiligen Abend dann die kleine Christin in der Weihnachtskrippe der Kapelle. Sie lag dort nur in ein dünnes Badetuch gehüllt. Melissa nahm sie auf wie eine kleine Schwester. Sie betreute sie auch, als sie anschließend sehr krank wurde und keiner mehr einen Pfifferling für ihr Überleben gab. Niemand wusste, wie lange das Neugeborene dort in der Krippe lag und draußen wütete in dieser Nacht ein heftiger Schneesturm. Seit dieser Zeit hingen die beiden zusammen wie Pech und Schwefel.
Christin wuchs im Kinderheim auf und wurde stark vom Kloster geprägt, während Melissa davor bereits ein anderes Leben kennengelernt hatte. Sie stand dem Weltlichen offener gegenüber als dem Kirchlichen, obwohl sie sich dann doch für ein Leben als Nonne entschied. Allerdings galt das für sie noch nicht als endgültig. Der Mutter Oberin gegenüber erwähnte sie allerdings nichts davon. Sie lernte ab ihrem achtzehnten Lebensjahr Kinderkrankenpflege. An dieses Kloster schlossen sich eine Kinderkrankenpflegeschule und eine Krankenpflegeschule an mit einigen Spezialausbildungen. Ebenfalls dazu gehörten eine Kinderklinik und ein Krankenhaus. Melissa wartete, bis Christin fünfzehn Jahre wurde, dann legten sie gemeinsam das Gelübde ab und wurden Ordensschwestern. Irgendwie meinte die Mutter Oberin plötzlich das Gefühl zu haben, Melissa zu verlieren. Und sogar bei Christin beschlich sie eine seltsame Ahnung. Sie würde vielleicht sogar beide verlieren. Es lag sozusagen in der Luft, denn beide zeichnete eine überdurchschnittliche Schönheit aus.
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