„Wenn Sie meinen, dass es etwas bringt?“, brummte Brandon. „Aber fangen Sie bitte endlich an. Ich will es so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Ihm war so ziemlich alles egal.
Man lagerte ihn vorsichtig auf die rechte Seite. Das Behandlungsgebiet wurde großflächig desinfiziert. Ein Pfleger erhöhte den Tisch, so dass der Professor das besagte Gebiet direkt vor seinem Gesicht hatte. Er bekam sterile Handschuhe von einer Schwester übergestreift. Dann griff er zu einer Spezialkanüle, die auf dem hergerichteten Instrumententisch lag.
„Mr. Stonewall, ist alles in Ordnung?“, fragte er sicherheitshalber seinen Patienten. „Es gibt jetzt einen kurzen Stich. Bitte erschrecken Sie nicht.“
Als er die Kanüle einstach, biss Brandon seine Zähne fest aufeinander. Er klammerte sich vor Schmerz an Christin, die vor ihm am Kopfende des Tisches stand, und zwar krallte er sich mit seinen Fingern so fest er konnte um ihre Taille. Vor Schreck blieb ihr die Luft weg. Noch nie berührte sie hier ein Mann.
„Bleiben Sie jetzt bitte ganz ruhig liegen“, ermahnte ihn der Professor. „Ich schließe jetzt den Perfusor (ein Gerät, das gleichmäßig die Tropfen abgibt) an.“
Man stützte und fixierte ihn mit Sandsäcken, damit er nicht nach hinten auf den Rücken rollen konnte und deckte ihn leicht zu.
Langsam ebbte der Schmerz in Brandons Rücken ab. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Pflegerin fest umschlungen hielt. Erschrocken ließ er sie los.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, murmelte er betreten. „Habe ich Ihnen wehgetan?“
„Nein, es ist schon in Ordnung“, antwortete Christin und atmete befreit auf. Doch so unangenehm fühlte sich die Berührung gar nicht an. Im Gegenteil, dort wo seine Hände sie umfangen hatten, kribbelte es jetzt und eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Ein leichtes Schwächegefühl in ihren Beinen machte sich zusätzlich bemerkbar. Sie konnte damit nichts anfangen, es auch nirgends einordnen. Christin hatte diese Gefühle zum ersten Mal und sie bemerkte bei sich eine große Unsicherheit. Wie sollte sie damit umgehen?
Der Tisch wurde wieder auf normale Höhe gebracht. Die Nonne holte sich einen Stuhl, setzte sich neben ihren Patienten und nahm seine rechte Hand in die ihre.
Bis das Medikament vollständig infundiert war, wurde es Nachmittag. Die Kanüle wurde herausgezogen und Brandon mit einem Druckverband auf den Rücken gelagert. Jetzt musste er drei Stunden so liegen bleiben. Er fühlte sich müde und wollte schlafen, aber ein starkes Übelkeitsgefühl hielt ihn davon ab. Verzweifelt versuchte er es zu unterdrücken, doch leider ließ es sich nicht aufhalten. Brandon erbrach beinahe pausenlos, ihm schmerzte der Magen und rasende Kopfschmerzen stellten sich ein. Christin hielt ihm die Brechschale. Sie fand es einfach grauenhaft, dass schwerkranke Patienten mit diesen Medikamenten auch noch belastet wurden. Doch im Moment gab es noch nichts Besseres auf dem Markt. Die Ordensschwester kämpfte mit den Tränen, etwas, das ihr noch niemals widerfahren war während einer Betreuung. Verstohlen wischte sie sie mit dem Handrücken weg, denn er sollte sie nicht sehen. Warum nur fühle ich mich ausgerechnet bei diesem Patienten so schwach? wunderte sie sich. In der Ausbildung wurde ich gelehrt, die Patienten mit Herz zu pflegen, jedoch den Schmerz und das Leid nicht an sich herankommen zu lassen. Geschieht es wirklich einmal, so ist das eigene Herz und der Glaube an Gott gefährdet. In solchen Situationen sollte man immer mit einem passenden Bibelspruch reagieren, um das Unheil abzuwenden, rief sie sich in ihre Erinnerung zurück. Und so betete sie lautlos in ihren Gedanken : „Denn worin er, Jesus Christus, selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.
Erst als die Sonne unterging wurden Brandon und seine Pflegerin nach Hause gefahren.
Christin kam ihr Patient heute noch schwächer als je zuvor vor. Er atmete so flach, dass sie schon genau hinsehen musste, ob er überhaupt noch Luft holte. Sie blieb die ganze Nacht an seinem Bett, vor allem auch, weil ihm immer wieder übel wurde. Nur von seinen Kopfschmerzen konnte sie ihn mit ihren Händen befreien. Auch die Infusion legte sie wieder, so dass er keine Schmerzen verspürte.
Eine ganze Woche besserte sich sein Zustand kaum. Christin stand wieder am Anfang ihrer Therapie.
„Ich glaube, ich muss mein ganzes restliches Leben im Bett verbringen“, gab Brandon eines Abends ganz unvermittelt von sich.
Christin gab es einen Riss, denn sie döste neben ihm leicht ein.
„Das glaube ich nicht“, widersprach sie sogleich.
„Sie wollen es nur nicht glauben“, entgegnete er trübsinnig. Das Wort „wollen“ betonte er extra.
„Nein, ich glaube fest, dass diese neue Chemotherapie greift. Sind die Krebszellen dann auf dem Rückzug, können Sie doch operiert werden“, versicherte sie ihm.
„Gut, dann sitze ich eben im Rollstuhl für den Rest, der mir noch bleibt. Ich hasse dieses Ding!“, brach es aus ihm heraus.
„Wer sagt Ihnen, dass Sie im Rollstuhl bleiben müssen? Erst muss ja wohl geklärt werden, was im Einzelnen bei Ihrer Wirbelsäule verletzt ist. Und durchgebrochen ist sie auch nicht, sonst wären Sie entweder schon längst tot, oder zumindest querschnittsgelähmt“, ereiferte sich Christin.
„Schon, aber ich fühle meine Beine und Füße nicht. Folglich bin ich querschnittsgelähmt“, beharrte Brandon.
„Das ist überhaupt nicht sicher. Beim Waschen habe ich zum Beispiel bemerkt, dass Sie ab und zu die Füße und die Beine ein wenig bewegt haben. Mr. Stonewall, warum sehen Sie denn alles so negativ?“, wollte sie wissen.
„Weil mein ganzes Leben bisher nur negativ verlaufen ist, sogar meine Kinderzeit und Jugendzeit“, antwortete er. „Seit ich so krank bin, fühle ich mich oft wie ein Baum ohne Blätter, dessen nackte, sturmgepeitschte Äste sich im dichten, kalten Nebel um Hilfe flehend dem Himmel entgegenstrecken.“
„Ich will nicht neugierig sein, Mr. Stonewall, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das bitte etwas näher zu erklären?“ Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand.
„Mr. Stonewall, der da draußen im Park in einem Mausoleum begraben liegt, ist nicht mein richtiger Vater. Meine Mutter wurde als sehr junges Mädchen zu dieser Vernunftehe gezwungen. Das klingt zwar wie im Mittelalter, doch bei meinen Eltern wurde es leider so arrangiert. Die Liebe blieb aus. Trotzdem kam ein Jahr nach der Hochzeit mein Bruder Henry auf die Welt. Sechs Jahre später fuhr meine Mutter allein in den Urlaub. Mein Stiefvater musste zur gleichen Zeit eine längere Geschäftsreise antreten. Als meine Mutter nach Hause kam, konnte sie dummerweise später nicht mehr sagen, dass das Kind, das sie erwartete, von ihrem Mann stammte, denn man sah ihr die Schwangerschaft bereits an. Eine Abtreibung stand bei ihr niemals zur Debatte. Sie wollte das Kind auf jeden Fall bekommen. Über meinen leiblichen Vater sprach sie niemals. So flog der Seitensprung auf. Mein Stiefvater ließ sich jedoch nicht scheiden, schon wegen des Geredes der Leute. Er stand als Chef mehreren Banken vor. Da machte sich eine Trennung nicht gut. Aber er verbannte meine Mutter und mich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Nur wenn es etwas zu repräsentieren gab und die Presse anrückte, mussten sie und ich an seiner Seite erscheinen. Ihnen wollte er der Welt seine heile Familie präsentieren, die in Wirklichkeit überhaupt nicht existierte. Mein Vater hielt viele Gartenpartys ab, die sich bis in die später Nacht, manchmal bis zum frühen Morgen hinauszogen. Es kamen Männer und Frauen von Welt und vor allem von anderen großen Banken. Deshalb auch die vielen Schlafzimmer im Haus, wenn die Gäste so spät und mit Alkohol im Blut nicht nach Hause fahren konnten. Mich übersah er sowieso komplett. Mich gab es so gut wie gar nicht für ihn. Mein Bruder wurde als Haupterbe eingesetzt. In der Schule glänzte er nicht gerade. Am schwersten tat er sich im Fach Mathematik. Gerade das Fach, welches er später am dringendsten benötigte. Ich sollte nur das Wohnrecht bekommen. Mein Bruder entwickelte sich zum Spieler und Trinker. Häufig steckte er in Spielschulden, aus denen mein Stiefvater ihn auslösen musste. Doch er sah darüber hinweg. Er meinte: er solle sich erst die Hörner abschlagen. Das gehöre schließlich zur Jugend . Trotzdem sollte er der Erbe seines Imperiums werden. Er sah ihn als seinen einzigen, leiblichen Sohn, der nach seinem Tod die sieben Banken mit Erfolg weiterführen sollte. Sein Stolz auf ihn kannte keine Grenzen.“ Brandon machte eine kurze Pause.
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