»Ist das nicht eine wundervolle Nacht? Die Welt kommt mir heute so verändert vor.«
»Es ist die Nacht der Erneuerung.«
Sie dachte an Sigfrid und seufzte. »Ja. Die Nacht der Erneuerung. Was bedeutet sie für dich?«
»Nichts. Die Menschen bleiben dieselben. Die Götter bleiben dieselben. Sogar die Sterne bleiben, wie sie sind.«
»Aber die Mittsommernacht ist voller Hoffnung! Spürst du es nicht?«
»Hoffnungen sind dazu da, von den Göttern zunichte gemacht zu werden. Ich nehme, was kommt, das erspart mir Enttäuschungen.«
»Ob du glücklich oder unglücklich bist, liegt allein in deiner Hand, Hagen. Das Gewebe der Nornen sagt nichts darüber aus. Das ist es, was uns die Mittsommernacht verspricht: dass du aus einem alten Webmuster etwas völlig Neues machen kannst.«
»Ebenso könnte ich versuchen, einen Stern vom Himmel zu holen.«
»Ich könnte es«, sagte sie trotzig und wartete auf Widerspruch oder ein nachsichtiges Lächeln.
Zu ihrer Überraschung tat er nichts dergleichen, sondern nickte nur. »Bei dir ist das etwas anderes. Was du dir vornimmst, wirst du auch erreichen.«
Bislang hatte sie immer angenommen, dass ihre Mutter die Einzige war, die sich nicht von ihr hinters Licht führen ließ, aber wie es schien, hatte nicht nur Oda Augen im Kopf und einen Verstand zum Denken.
»Du siehst mich an wie eine Dryade«, sagte Hagen und fügte nach einer winzigen Pause hinzu: »Schmiedeauge.« Sie war so verblüfft, dass sie im ersten Moment gar nicht begriff, dass er einen Scherz gemacht hatte. Darüber musste er lachen. Es war ein hartes, trockenes Lachen, kurz und präzise wie sein Wesen, aber es kam aus seinem Inneren, und er ließ es frei.
Sie sah ihn mit Zuneigung an. »Es ist schön, wenn du lachst.«
Sein Lachen erstarb ebenso abrupt, wie es begonnen hatte. »Grimhild, ich möchte dir sagen –«
Was immer er ihr sagen wollte, der Satz wurde nie vollendet.
Denn Grimhild entdeckte endlich das Gesicht, nach dem sie Ausschau gehalten hatte, und ihr Herz machte einen Satz. Sie wollte zu Sigfrid laufen und ihn berühren, um sich zu überzeugen, dass er Wirklichkeit war und kein Traum ihr einen Streich spielte, aber dann beschloss sie, die Gelegenheit zu ergreifen, Hagen auf ihre Seite zu ziehen. Beschwörend legte sie die Hand auf seinen Arm, obwohl sie wusste, dass er gewöhnlich unwillig auf Körperkontakt reagierte. »Du sollst der Erste sein, Hagen, der es erfährt. Sigfrid wird bei Gunter um mich freien. Ich bitte dich, unterstütz diesen Wunsch! Um meinetwillen!«
Der Moment der Gemeinsamkeit schien vorbei zu sein. Der Waffenmeister trug wieder den unnahbaren Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie so gut kannte. Zunächst schien es, als wolle er ihr eine Antwort verweigern, und als er sich dann doch dazu entschloss, etwas zu sagen, lag eine Ewigkeit zwischen seinen Worten. »Ich … werde … sehen.« Damit wandte er sich ab und ließ sie stehen.
Irritiert sah Grimhild ihm nach. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn um Hilfe zu bitten. Ob er sie überhaupt mochte?
Inzwischen hatte sich die Wirkung des Tranks voll entfaltet, die Droge löste alle Hemmungen. Männer und Frauen hatten sich ihrer Kleidung entledigt, einige gaben sich im Sonnenwendrausch zügelloser Leidenschaft hin, die meisten tanzten den traditionellen Fruchtbarkeitsreigen um die Scheiterhaufen. Immer wieder sprangen einige von ihnen paarweise durch das heilige Feuer.
Gislher ergriff Dietlinds Arm und zog sie mit sich. Sein Schrei übertönte ihr Kreischen, als sie durch die Flammenwand getragen wurden und Flammenzungen nach ihnen leckten, um alles, was unrein war, abzuwaschen. Es war ein rauschhaftes Erlebnis, die Ekstase des Lebens.
Auch Gunter sprang durch die Flammen. Sein Gesicht glühte. Der Trank des Priesters hatte ihn befreit wie einen Vogel aus dem Käfig. Ja, er konnte fliegen! Mit einem Schrei jagte er erneut auf das Feuer zu, und die Flammen trugen ihn in die Lüfte empor.
Gernholt fühlte sich leicht und unbeschwert. Die bilisa nahm ihm die Schmerzen, und zusammen mit dem Trank des Priesters versetzte sie ihn in Euphorie. Er würde auch springen! Er würde wie die anderen vom Feuer gereinigt werden! Keuchend richtete er sich auf. Vor dem Scheiterhaufen pumpte er ein paarmal Luft, dann brüllte er plötzlich aus Leibeskräften, wild, lebensgierig, und rannte los. Jubelnd sprang er durch die Flammen. Seine Füße streiften die Zweige, Glut stob auf. Als er auf der anderen Seite aufprallte, knickten ihm die Beine weg und er schlug auf das Gesicht, aber es war ihm egal; er war glücklich.
Hagen hockte am Feuer, ohne dessen Wärme zu spüren. Er fühlte nichts, er dachte nichts, hockte einfach nur da und existierte. Lange kauerte er in dieser Stellung und starrte in die Flammen. Dann erhob er sich, ohne auf den Protest seiner eingeschlafenen Glieder zu achten, und entfernte sich mit durchgebogenem Rücken. Auf dem Weg zur Burg sah er keinen Menschen, obwohl es auf und um den Hügel von ihnen nur so wimmelte. Er holte sein Pferd, das unwillig über die nächtliche Ruhestörung schnaubte, saß auf und ritt davon.
Sobald er sich auf ebenem Gelände befand, ließ er den Hengst ausholen. In fliegender Hast ging es den steinigen Weg entlang, was in der Dunkelheit riskant war. Nach einer Weile wich Hagen von der Römerstraße ab. Er sah nicht, wohin er ritt, und es interessierte ihn auch nicht. Das Tier raste in halsbrecherischem Tempo durch Sträucher und Dornbüsche, über Wurzeln und Steine. Unbarmherzig schlug der Waffenmeister auf das Pferd ein und trieb es zu noch schnellerem Galopp an. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, ein- oder zweimal strauchelte der Hengst; es war ihm egal. Leicht konnte er sich bei diesem wahnwitzigen Ritt das Genick brechen; auch das war ihm egal. In ihm tobte ein Dämon, der danach verlangte, befreit zu werden, und Hagen konnte oder wollte sich ihm nicht widersetzen.
Die Götter mussten wohl Pläne mit ihm haben, denn er lebte noch, als der Morgen graute. Irgendwie hatte sein Pferd einen ausgetretenen Pfad gefunden, dem es folgte. Hagen wusste weder wie lange er geritten war, noch wo er sich befand. Längst hatte er Tolbiacum und den unmittelbaren Herrschaftsbereich der Niflungen hinter sich gelassen, und noch immer fand er keine Ruhe. Der Hengst war schweißnass und zitterte von dem Gewaltritt. Im blassen Licht des beginnenden Tages konnte der Waffenmeister allmählich Einzelheiten seiner Umgebung ausmachen. Er gelangte an eine Brücke über einen Bach. Müde trottete das erschöpfte Pferd über die Holzplanken.
Plötzlich wurde sein Weg von zwei Reitern versperrt. Der eine war von gedrungener Statur, besaß keine Zähne mehr, und seine Haut war voll hässlicher dunkler Flecken. Der zweite war groß und hager und vollkommen kahl. Er schien der Anführer zu sein, denn der andere wartete offenbar auf einen Befehl von ihm. Beide trugen abgewetzte Kleidung. Ihre Pferde waren vermutlich gestohlen.
Brutal riss Hagen an den Zügeln. Schmerzvoll wiehernd kam sein Hengst auf der Brücke zum Stehen. Ein Instinkt veranlasste den Waffenmeister, den Kopf zu drehen. Hinter ihm kam ein dritter Reiter aus dem Gebüsch und schnitt ihm den Fluchtweg ab. Eine Unmenge Narben entstellten sein vielleicht einmal hübsches Gesicht.
Mit schiefem Grinsen beobachteten ihn die drei.
»Ein schönes Tier«, sagte der Kahlköpfige.
»Und sieh dir seine kostbare Kleidung an«, bemerkte der Zahnlose an seiner Seite. »Das lohnt sich ja richtig.«
Der Anführer der Wegelagerer sah den Waffenmeister an. »Steigt einfach ab und zieht Euch aus, vielleicht lassen wir Euch am Leben.«
Hagen sagte kein Wort. Er studierte die Männer. Sie besaßen die Haltung von Kriegern, die das Kämpfen gewohnt waren. Ihre Schwerter waren einfach, aber das zerkratzte Eisen und die Scharten in den Schneiden verrieten, dass sie nicht nur als Schmuck dienten. Und er selbst hatte bei der kopflosen Flucht aus Tolbiacum versäumt, sein Schwert mitzunehmen.
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