»Mutter«, sagte Grimhild ungeduldig, »es geht nicht um Politik, sondern um mein Leben!«
»Du weißt sehr gut, dass das ein und dasselbe ist, meine vorwitzige Tochter.« Oda seufzte. »Um ehrlich zu sein, ich bin nicht einmal sicher, ob ich um deinetwillen mit ihm versippt sein möchte.« Sie hob beschwichtigend die Hände, ehe Grimhild protestieren konnte. »Ich weiß, ich weiß! Er sieht gut aus, er ist tapfer, er ist ehrlich – ich kenne seine Vorzüge.«
Und er ist zärtlich, fügte Grimhild in Gedanken hinzu, aber das wagte sie nicht laut zu sagen.
Vielleicht konnte ihre Mutter hinter ihrer Stirn lesen, denn sie fügte hinzu: »Und er wird dir vermutlich ein guter Liebhaber sein.« Oda lachte, als sie den schockierten Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah. »Ist es mir einmal gelungen, dich sprachlos zu machen? Ich verstehe sehr gut, was dir an ihm gefällt. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich ihm auch schöne Augen machen. Aber Liebe ist nicht zwangsläufig die ideale Ausgangsbasis für ein Ehebündnis. Manchmal ist es vorteilhafter, wenn einem keine Gefühle im Weg stehen.« Sie sah ihre Tochter an und seufzte erneut. »Ich nehme an, jedes meiner Worte ist verschwendet. Ich kann es dir nicht einmal übel nehmen. Mit deinem Vater ging es mir schließlich nicht anders.«
Die verzweifelte Hoffnung in den Augen ihrer Tochter erschreckte Oda. Grimhild war plötzlich so verletzbar. Aber vielleicht hatte sie ja recht. Vielleicht war ein Mann, den sie anbetete, der Richtige, um ihr Temperament in geordnete Bahnen zu lenken. »Also schön, ich gebe zu, ich habe nichts weiter vorzuweisen als ein unbehagliches Gefühl, und ich will deinem Glück nicht im Wege stehen. Ich werde mit Gunter reden.«
Grimhild flog ihrer Mutter um den Hals. »Danke, tausendmal danke! Du wirst sehen, deine Sorgen sind grundlos. Wir werden das glücklichste Paar sein so weit die Sonne scheint und das Korn auf den Feldern reift.«
Und eben das könnte euer Verhängnis sein, dachte Oda.
Als sie den Hügel erklommen hatte, war Grimhild außer Atem. Ihrer Mutter dagegen war die Anstrengung kein bisschen anzumerken. Seltsam, wie die Aussicht auf das Fest sie verjüngte!
Bald schon würde die Sonne am Horizont versinken, dann begannen die Feierlichkeiten. Scheite und Zweige waren zu gewaltigen Haufen aufgeschichtet worden, und immer noch kamen Männer und Frauen und gaben ihren Teil zum Feuerholz dazu. Ansgar half bei den Vorbereitungen. »He-ho, setz dich zu mir, frouwa !«, rief er, als er Grimhild bemerkte, und grinste über das ganze Gesicht. Sie lächelte. Selbst erwachsene Männer wurden zu Mittsommer wieder zu Kindern.
Die Bevölkerung von Tolbiacum schien zusammengekommen, jedenfalls, soweit sie nicht christlich war. Selbst von denen, die Christus für mächtiger als Wodan hielten und sich im Namen des gekreuzigten Gottes hatten taufen lassen, ließen es sich viele nicht nehmen, bei diesem Fest dabei zu sein, so sehr die Priester auch dagegen wetterten. Mittsommer war ein Höhepunkt des Jahres, und es konnte nicht schaden, die Sonne im Zenit ihres Laufs zu stärken.
Mit Bedauern stellte Grimhild fest, dass die Aufregung des Sonnenwendfestes sie nicht wie früher fesselte. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie der Feier ebenso entgegengefiebert wie alle. Jetzt überlagerte eine Aufregung anderer Art ihre Gefühle. Wenn Sigfrid nur endlich kommen würde!
Nach wie vor strömten Menschen den Hügel hinauf. Auch einige Nachbarn waren gekommen, um das Fest gemeinsam mit den Niflungen zu begehen. Grimhild erkannte Rodinger von Bakalar, einen Gefolgsmann König Attalas, mit seiner Sippe und eilte zu ihnen, um sie zu begrüßen.
Rodinger war ein unscheinbarer Mann, der in der Menge breitschultriger Krieger leicht unterging, doch wenn man ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, konnte man eine innere Stärke spüren. Und sobald man seine sanfte Stimme hörte, um die ihn mancher Skop beneidete, musste man vollends für ihn eingenommen sein.
» Frouwa Grimhild! Euer Lächeln ist eine weitaus größere Unterstützung für die Sonne als jedes Sonnenwendfeuer.«
Und wortgewandt war er, erinnerte sich Grimhild. »Ich grüße Euch, frō Rodinger!«
»Ihr seid eine Frau geworden, seit ich Euch zuletzt sah«, stellte er fest.
In gespielter Schamhaftigkeit senkte sie die Lider.
Etwas abseits stand Oda mit Rodingers Gemahlin Gudelinde, einer gutmütigen Frau, die zu Fülligkeit neigte, und deren achtjähriger Tochter Dietlind, die über und über mit Sommersprossen bedeckt war. Sie hatte den Hang ihrer Mutter zu Rundlichkeit geerbt, war aber nichtsdestoweniger ein hübsches Mädchen. Über die Entfernung hinweg warfen Gudelinde und ihr Mann sich manch vertrauten Blick zu, ein stummer Ausdruck von Zuneigung, der Grimhild ans Herz ging. Sie und Sigfrid würden sich auch immer so ansehen, da war sie sicher.
Ihre Brüder kamen mit Hagen den Hügel hinauf. Grimhild reckte den Kopf. Zu ihrer Enttäuschung war Sigfrid nicht bei ihnen. Ob Gislher schon mit Gunter gesprochen hatte?
Gislher plapperte in einem fort. An diesem Morgen hatte er seine Waffenübungen mit Sigfrid abgehalten. Seit der Sachse ihn vor Wodans Wut gerettet hatte, vergötterte er ihn geradezu und kam gar nicht auf den Gedanken, dass sein Verhalten Hagen kränken könnte. Im Gegenteil, stolz berichtete er ihm von den Fortschritten, die er machte. Und Hagen, der war, der er war, behielt seine unergründliche Miene und schwieg.
»Ich wünschte, ich hätte auch so ein Schwert wie Sigfrid«, sagte Gislher. »Mit einem solchen Schwert wäre ich unbesiegbar.«
»Mut ist entscheidender als ein gutes Schwert«, widersprach Hagen. »Manch kühnen Mann sah ich den Kampf gewinnen mit stumpfer Klinge, während Feiglinge trotz eines guten Schwertes unterlagen.«
»Am besten ist es, beides zu besitzen, ein gutes Schwert und Tapferkeit. Wie Sigfrid. Volker kann mehr Heldentaten von ihm besingen, als man zu zählen vermag.«
»Es ist keine Kunst, tapfer zu sein, wenn man unverwundbar ist.«
In diesem Moment kam der pluostrari , der Priester, der die Opfer darbrachte, mit einer Fackel den Hügel herauf. Am Nachmittag war in Tolbiacum das Herdfeuer gelöscht worden. Die Bewohner des Ortes hatten sich versammelt und gemeinschaftlich mithilfe gegeneinander geriebener Holzstäbe eine neue Flamme ins Leben gerufen und dadurch Segen in Ställe und Häuser gebracht. Jetzt trug der Priester das frische Feuer den Hügel herauf und stimmte einen Gesang an. Nach und nach fielen die Umstehenden ein. Es war ein ausgelassener Gesang, eine Hymne an die Sonne, die eben im Begriff stand unterzugehen.
Ein Ochse wurde gebracht. Vier Männer hielten das sich sträubende Tier fest. Der Priester hängte ihm, immer noch singend, einen Kranz aus Wolfsblumen um den Hals, die wegen ihrer sonnenähnlichen Gestalt ausgewählt wurden. Im letzten Licht des Tages reichte er Gunter die Fackel, zog einen heiligen Dolch und steigerte seinen Gesang zu einem ekstatischen Höhepunkt. Der Ochse wurde unruhig, er spürte die Gefahr. Abrupt brach der Gesang ab. Mit einer fachgerechten Bewegung schnitt der pluostrari dem Opfertier die Kehle durch. Der Ochse wehrte sich und versuchte zu brüllen, doch der Tod war schneller. Blut tränkte den Boden. Feierlich nahm der Priester die Fackel aus Gunters Händen und entzündete die errichteten Scheiterhaufen. Einige Männer waren schon dabei, den toten Ochsen zu zerteilen, um das Fleisch im Feuer zu rösten.
Ansgar feixte, als Volker sich neben ihn setzte. »Hast du den Priester gehört? Das war doch wenigstens mal ein Gesang! Davon könnte sich mancher Sänger eine Scheibe abschneiden.«
»Ein guter Sänger ist er wohl. Aber hast du gesehen? Er schneidet seinen sachverständigsten Zuhörern die Kehle durch.«
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