Oda hatte sich derweil zu Gunter begeben. »Es tut mir leid, wenn ich dich am heutigen Abend mit Reichsangelegenheiten behellige, aber ich wollte mit dir über etwas reden.«
Der Niflunge nickte. Ein König war immer ein König. Für ihn gab es keinen Augenblick, in dem er nur er selbst sein konnte. Im Übrigen hatte er festgestellt, dass die Ratschläge seiner Mutter oft von Wert waren.
»Ich habe über Sigfrid nachgedacht. Er wäre ein guter Mann für Grimhild, glaube ich.«
Seine Mutter ebenfalls? Gislher hatte schon den halben Vormittag mit ihm über dieses Thema sprechen wollen. Nachdenklich wanderte Gunters Blick zu seiner Schwester.
Die versuchte vergeblich, ein Wort von dem zu erraten, was gesprochen wurde. Wenn sie doch nur selbst etwas tun könnte! War es wirklich genug, wenn Gislher und ihre Mutter mit Gunter redeten? Vielleicht genügten zwei Fürsprecher nicht! Grimhild machte sich auf die Suche nach ihrem dritten Bruder.
Im flackernden Schein der Feuer entdeckte sie Gernholt und blieb unschlüssig stehen. Ob sie Erfolg haben würde, hing davon ab, in welcher Stimmung er sich befand. Seit seiner Verkrüppelung pendelte er zwischen Unruhe und Teilnahmslosigkeit. Es gab Augenblicke, in denen er die Welt erobern wollte, dann war er nicht zu bremsen. In solchen Momenten konnte er fröhlich und ausgelassen und sogar komisch sein. Zu anderen Zeiten jedoch kam er sich unnütz vor und empfand sich als Last für die anderen. Dann sprach er oft vom Tod und gab sich düsteren Gedanken hin. Das war vor allem bei feuchtem Wetter der Fall, wenn sein Armstumpf und die Narben an seinem Bein schmerzten. Meist betäubte er sich dann mit einem Sud aus Bilsenkraut.
Sie hatte Pech. Es war feucht, und Gernholt hatte bilisa zu sich genommen. Angewidert verzog Grimhild die Nase. Nach dem Trocknen roch die Pflanze zwar nur noch schwach, aber sie hasste das Kraut. Es verschaffte ihrem Bruder Linderung, aber es trennte ihn auch von der Welt. Für sie waren der Geruch und Gernholts verbitterter Zustand untrennbar miteinander verbunden. Prüfend sah sie ihn von der Seite an. Seine Augen waren glasig, aber sein Verstand schien nichtsdestoweniger in Ordnung. Sie gab sich einen Ruck und setzte sich zu ihm.
»Meine Schwester«, begrüßte er sie schwerfällig, »was willst du denn von einem Krüppel wie mir?«
Grimhild hasste es, wenn er sich so bezeichnete. »Ich wollte dich um deine Hilfe bitten«, sagte sie. So wenig er es ertragen konnte, wenn andere ihm halfen, so sehr gierte er nach den seltenen Fällen, in denen er jemandem beistehen konnte. Es ließ ihn für einen Moment seine Behinderung vergessen und glauben, er sei ein Mann wie jeder andere.
Tatsächlich erhielten seine stumpfen Augen Glanz. »Wie kann ich dir helfen?«
» Frō Sigfrid wird vielleicht um mich freien.« Sie sprach langsam, deutlich und in kurzen Sätzen, damit der Sinn ihrer Worte zu ihm durchdrang. »Bitte unterstütz ihn! Sprich mit Gunter!«
Gernholt bemühte sich um einen klaren Kopf. Sigfrid. Das war der blonde Sachse, ein angenehmer Krieger. Freundlich, fröhlich … »Mach dir keine Sorgen, ich rede mit ihm!« Mühsam drehte er sich auf die Seite, um sich auf seinen vorhandenen Arm zu stützen. Dann winkelte er die Beine an und wälzte sich auf die Knie. Schwankend stellte er einen Fuß auf den Boden und drückte sich hoch.
Grimhild hütete sich zu helfen, obwohl sein Anblick ihr in der Seele wehtat. Er hätte ihre Hilfe nicht geschätzt. Während sie ihm nachschaute, als er mit unsicherem Schritt zu ihrem ältesten Bruder hinüberwankte, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie nicht einen Fehler begangen hatte, ihn zu ihrem Fürsprecher zu machen.
Der Niflungenkönig sah seinen Bruder auf sich zukommen und lud ihn ein, neben ihm Platz zu nehmen, ohne sich die Besorgnis über seinen Zustand anmerken zu lassen.
Gernholt kam gleich zur Sache. »Ich muss mit dir reden«, sagte er.
Gunter seufzte. »Du möchtest mir sagen, was für ein guter Verbündeter Sigfrid wäre.«
Gernholt sah ihn verdutzt an. »Woher weißt du das?«
In gespielter Verzweiflung rang der Niflungenkönig die Hände. »Ich hoffe, der Sachse verlangt sie endlich zur Frau, damit ich wieder einmal Ratschläge zu anderen Themen zu hören bekomme.«
Die Sonne war inzwischen hinter den Hügeln versunken. Ein schmaler rötlicher Schein erhellte noch den Horizont, ansonsten hatte sich die Nacht bereits wie ein azurblaues Tuch über das Land gelegt. Die Sterne funkelten in seltener Klarheit. Unter Jauchzen und Schreien bereiteten sich Jungen und Mädchen und solche, die wieder jung wurden, auf das Feuerradrollen vor. Zahllose Wagenräder aus Stroh wurden aufgestellt. Der pluostrari ging herum und entzündete unter rituellen Beschwörungsformeln ein Rad nach dem anderen. Begleitet vom Geschrei der Feiernden rollten die Sonnensymbole dann ins Tal hinab.
Gislher ließ ein Geheul ertönen, als er seinem brennenden Rad einen Stoß gab und mit den Augen der Feuerspur folgte. Ivo tat es ihm gleich, und die beiden Jungen feuerten ihr Rad an, als Erstes unten zu sein. Im unruhigen Licht des Feuers wirkten sie wie Brüder. Ivo war hier geboren und unfrei geworden, als Aldrian das Niflungenreich eroberte. Der König hatte ihn gemeinsam mit Gislher aufgezogen, wie es üblich war.
Hunderte flammender Funken jagten den Hügel hinab und bildeten zuckende Muster in der Dunkelheit. Es war aufregend, ihnen nachzusehen. Auch Dietlind schrie vor Begeisterung. Gislher bemerkte ihre sehnsüchtigen Blicke, und ihm kam zu Bewusstsein, dass sie auf ihrer Reise keine Gelegenheit gehabt hatte, Vorbereitungen für das Fest zu treffen. »Wartet!«, sagte er und lief mit raschen Schritten davon. Als er zurückkam, hielt er ein Strohrad in der Hand. »Für Euch.«
Dietlind war gerührt. »Danke«, sagte sie.
Er zog ein brennendes Scheit aus dem Feuer und entzündete das Stroh für sie. Sie gab dem Rad einen Stoß. Eine Flammenspur fegte ins Tal hinab und erhellte den Weg mit feurigem Atem. Dietlind machte ihren Gefühlen durch lautes Schreien Luft, was Gislher so ansteckend fand, dass er begeistert mitschrie.
Der pluostrari hatte Gewürze ins Feuer geworfen, die angenehme Gerüche verbreiteten. Jetzt ließ er einen Kessel mit einem aromatisch riechenden Getränk herumgehen, von dem jeder einen Becher voll nehmen durfte. Die Zutaten dafür waren ein Geheimnis der Priester. Die Mixtur öffnete die Sinne für den Zauber und die Schönheit der Mittsommernacht. Gislher ließ Dietlind den Vortritt und trank anschließend selbst. Der Geschmack war streng, aber nicht unangenehm. Mit einem wohligen Gefühl plumpsten die beiden ins Gras und blickten in den Himmel.
»Was wünscht Ihr Euch am meisten im Leben?«, fragte Dietlind.
Gislher kaute an einem Grashalm. »Ich möchte so werden wie Sigfrid«, erwiderte er. »Ich möchte meiner Sippe Ehre machen. Die Skopen sollen von mir singen.« Im nächsten Jahr, wenn er dreizehn war, würde er auf dem Thing sein eigenes Schwert erhalten und als waffenfähiger Krieger in den Sippenverband aufgenommen werden. Ein Jahr noch! Es fiel ihm schwer, so lange zu warten. »Und Ihr? Was ist Euer größter Wunsch?«
»Ihr werdet mich auslachen, wenn ich es sage.«
»Das werde ich nicht.«
»Ich … ich möchte einmal, nur ein einziges Mal eine Nymphe sehen«, platzte sie heraus. »Man sagt, sie seien schön und zerbrechlich. Wie oft schon habe ich einem Baum oder einem Strauch Opfer gebracht, aber noch nie hat sich mir eine gezeigt.«
»Mir auch nicht«, sagte Gislher, »aber Ivo, unser Stallbursche, ist einer Oreade begegnet, einer Bergnymphe. Er erzählt oft davon.«
Beide schwiegen eine lange Zeit. Sie hatten die Augen geschlossen und sogen die verheißungsvolle Atmosphäre dieser besonderen Nacht in sich auf. Ein Versprechen lag in der Luft, die Kraft der Erneuerung. Dietlind fasste es als Erste in Worte. »Wenn die Sonne zurückkehrt, sind wir nicht mehr dieselben.«
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