Marge Piercy
Menschen im Krieg
Gone to Soldiers
Marge Piercy
Menschen im Krieg
Gone to Soldiers
Roman
Deutsch von Heidi Zerning
Literaturbibliothek
Argument · Ariadne
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Gone to Soldiers
© Marge Piercy 1987
Alle Rechte vorbehalten
Neuausgabe © Argument Verlag 2014
Deutsche Erstausgabe © Argument Verlag 1995
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann,
Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-86754-872-4
Die Überlebenden haben ihre eigenen
Bücher geschrieben,
und die zu Tode Gekommenen sind zu zahlreich und zu hungrig,
als dass dies dem Grabhügel mehr als ein
Steinchen hinzufügen könnte
So ist dies für meine Großmutter Hannah,
die der Trost meiner Kindheit war
und eine Geschichtenerzählerin sogar in dem
Englisch,
das ihr nie recht in den Mund passte
Für den Augenblick, als sie erfuhr, dass von
ihrem
Dorf niemand und nichts geblieben war
Für ihre schwachen Augen, ihren starken
Magen und die Geschichten, die sie erzählte
Für ihre Liebe zu Döntjes und zu Märchen,
ihr unheilbar romantisches Herz,
ihre Gabe, die Vergangenheit
in die Gegenwart zu rufen
Louise 1
Talent zu Romanzen
Louise Kahan, auch bekannt als Annette Hollander Sinclair, sah in der Diele ihrer Wohnung die Post durch. Ein Luftpostbrief aus Paris. »Deine Tante Gloria hat dir geschrieben«, rief sie Kay zu, die sich in ihrem Zimmer eingeigelt hatte und Swing hörte, angeblich Schularbeiten machte, aber in ihren klebrig-verschwitzten Gedanken nur den Jungens nachhing. Louise kannte die Symptome, hatte aber nie ein Heilmittel dagegen gefunden, nicht bei sich selbst und schon gar nicht bei ihrer Tochter. Kay antwortete nicht; vermutlich hörte sie nichts über dem Stampfen aus dem Radio.
Ein Stapel Privatpost für Mrs. Louise Kahan. Familienkram, Einladungen. Gelegentlich ein Fauxpas, gerichtet an Mr. und Mrs. Oscar Kahan. Wo wart ihr eigentlich die letzten zwei Jahre? Dann die Post für Annette Hollander Sinclair in zwei Häufchen: eins für Geschäftsbriefe über Rechte, Rundfunkbearbeitungen, ein Vertrag mit Doubleday von ihrem Agenten Charley für den Sammelband mit Erzählungen unter dem Titel Was ihm verborgen blieb. Vorträge, Clubansprachen, ein Interview am Mittwoch.
Der zweite Stapel für Annette war Fanpost, zu fünfundneunzig Prozent von Frauen. Schließlich ein paar Sachen für die schlichte Louise Kahan: ihr Daily Worker, Nachdrucke von einem Masses and Mainstream-Artikel, den sie über den Streik der Docker in Baltimore geschrieben hatte, von International Publishers ein Buch über Fabrikarbeiterinnen, das sie besprechen sollte, und William Shirers Berliner Tagebuch.
In dem Stapel waren auch die Nachmittagszeitungen. Die griff sie sonst zuerst auf, aber sie konnte sich heute nicht dazu durchringen. Europa war von einem Ende bis zum anderen von den Nazis besetzt, ein einziges riesiges Gefängnis. Überall wurden gute Menschen und alte Freunde an die Wand gestellt, in Kellern gefoltert, in Lager verschleppt, über die Gerüchte umgingen, die langsam mehr zu sein schienen als Gerüchte.
Sie lehnte sich an die Wand und sammelte Kraft, um ihr Leben fortzusetzen, das gefühlsgeladene Minenfeld zu betreten, in das sich ihre Beziehung zu Kay in letzter Zeit verwandelt hatte. Die Diele war der dunkelste Raum der Wohnung, denn das Wohnzimmer, ihr Büro und Kays Zimmer hatten Aussicht auf den Hudson River, ihr eigenes Zimmer und das Esszimmer blickten auf die Zweiundachtzigste Straße. Sie hatte die Diele mit ein paar geschickt platzierten Spiegeln aufgehellt und mit einer Lampe eigens auf den großen, kühnen Miró, den sie jetzt auf der Suche nach Heiterkeit, Esprit und Licht betrachtete.
Der Vortrag, vor zwei Stunden von ihr gehalten, hatte sie gelangweilt, wiewohl nicht ihr Publikum. Wenn sie an den flittergeschmückten Läden vorbeikam, fand sie Weihnachten schwerer zu verkraften als sonst. Die Welt verbrannte zu Knochen und Asche, und ihre Landsleute dachten an nichts als Donald Duck im Weihnachtsmannkostüm. Sie musste eigentlich bald die Stadt zur East Side durchqueren, um Lekvar für eine Süßigkeit zu besorgen, die sie gern zu Chanukka buk, eine ungarisch-jüdische Leckerei aus der Küche ihrer Mutter, aber der Laden, der das führte, lag im deutschen Yorkville. Sie musste in kampflustiger Stimmung sein, um den offen zur Schau gestellten Hakenkreuzen die Stirn zu bieten, den Nazifilmen in den Kinos, Sieg im Westen, dem Deutsch-Amerikanischen Bund, der antisemitische Pamphlete an den Ecken verteilte.
Neben der Post lag eine Liste der Telefonanrufe, hingekliert, wenn Kay sie entgegengenommen hatte: Ed von der Vortragsvermittlung hat angerufen. Du sollst morgen Vormittag zurückrufen. Hat wohl Ärger.
Eine Verrückte hat angerufen, sie will, dass du ihre Lebensgeschichte schreibst.
Papi hat angerufen.
Die Notizen ihrer Haushälterin Mrs. Shaunessy und ihrer Sekretärin Blanche waren ordentlicher:
Mr. Charles Bannermann, 11:30. Er möchte wissen, ob die Verträge angekommen sind.
Mr. Kahan, 14:30. Er ist in seinem Büro in der Columbia.
Mr. Dennis Winterhaven, gegen 15:00, er ruft noch mal an.
Miss Dorothy Kilgallen hat angerufen wegen eines Interviews mit Ihnen am 12. Dezember.
Oscar hatte zweimal angerufen. Sie versuchte, das als bedeutungslosen Zufall zu behandeln, aber nichts zwischen ihnen würde sich je auf eine emotionslose Ebene hinunterschrauben lassen, das wusste sie inzwischen. Allein bei der Aussicht, ihn zurückrufen zu müssen, erhöhte ihr Herz merklich den Durchfluss, verflixte verräterische Pumpe. Sie erledigte zuerst die geschäftlichen Anrufe, klärte ihren Terminplan, schaute die Verträge durch, setzte ihre Paraphe, wo sie sollte, unterschrieb mit vollem Namenszug, wo sie sollte. Das Geld konnte sie wahrlich brauchen.
Sie beschloss, mit Kay zu reden, bevor sie sich auf ihren geschiedenen Ehemann einließ. Sie klopfte an. Mit fünfzehn hatte sie sich nach eigener Privatsphäre mit einer Heftigkeit gesehnt, an die sie sich noch erinnern konnte. Sie gewährte Kay die Unantastbarkeit ihres Zimmers, obwohl das Beherrschung kostete. Louise kannte sich als ängstliche Mutter. Sie wollte Kay gern wieder näher sein, so nah, wie sie sich gewesen waren, als Kay noch kleiner war, auch wenn sie wusste, dass Kay ihre Unabhängigkeit behaupten musste. Irgendwo lag der richtige Ton, die richtige Stimme, die richtige Geste, um das gegenseitige Wundgeriebensein zu lindern.
»Schau, schau, ein Annette-Hut!«, sagte Kay. Sie lümmelte auf dem Fußboden, ganz Beine und Ellenbogen und überzählige Gelenke in einem Faltenrock, der rasch seine Falten verlor, und einer übergroßen Hemdbluse, in der sich ihr kaum entwickelter Körper verlor, als habe er sich aufgelöst. Sie drehte automatisch das Radio leiser, als Louise hereinkam.
Louise berührte den Hut: ein Wagenrad in Schwarz und Rosa mit einem kleinen Schleier über den Augen. »Ich habe in Oyster Bay einen Vortrag vor einem literarischen Club gehalten.«
»Literarisch?«, kreischte Kay. »Was wollten die dann von dir?«
»Sie nennen sich so, aber sie lesen nicht Thomas Mann.« Sie löste die Hutnadeln, nahm den Hut ab und ließ ihn auf zwei Fingern kreisen. Sie schlüpfte aus ihren hochhackigen Pumps und sank in den Schaukelstuhl, um sich die müden Füße zu massieren. »Hat dein Papi gesagt, was er wollte, Kay?«
Kay kicherte. »Ich habe ihm von meinem Aufsatz erzählt, und er hat ihn praktisch am Telefon für mich geschrieben.«
»Das war bestimmt sehr hilfreich«, sagte Louise und schmeckte dabei den Essig in ihrer Stimme. »Was hatte er sonst noch zu bieten?«
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