Marge Piercy
Er, Sie und Es
Marge Piercy
Roman
Deutsch von Heidi Zerning
Literaturbibliothek
Argument · Ariadne
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
He, She And It
© Marge Piercy 1991
Alle Rechte vorbehalten
Korrigierte Neuausgabe © Argument Verlag 2016
Deutsche Erstausgabe © Argument Verlag 1993
Satz und Umschlag: Martin Grundmann, Hamburg
Lektorat: Else Laudan
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-86754-874-8
Dem Andenken von Primo Levi gewidmet
Seine Bücher waren wichtig für mich.
Ich vermisse seine Gegenwart in der Welt.
Cover
Titel Marge Piercy
Impressum Titel der amerikanischen Originalausgabe: He, She And It © Marge Piercy 1991 Alle Rechte vorbehalten Korrigierte Neuausgabe © Argument Verlag 2016 Deutsche Erstausgabe © Argument Verlag 1993 Satz und Umschlag: Martin Grundmann, Hamburg Lektorat: Else Laudan E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018 ISBN 978-3-86754-874-8
Widmung Dem Andenken von Primo Levi gewidmet Seine Bücher waren wichtig für mich. Ich vermisse seine Gegenwart in der Welt.
In der Konzernfestung
Die Farbe alten Blutes
Malkah erzählt Yod eine Gutenachtgeschichte
Durch das brennende Labyrinth
Vor fünfzehn Jahren: Der Tag des Alef
Wir wissen zu viel und zu wenig
Unter keinem Mond
Wie soll ich dich anreden?
Das Familienalbum wird umgeschrieben
War es gut, das zu tun?
Er, Sie und Es
Das Meer bringt Wandel
Eine zwiefache Geburtshilfe
Im Licht des ungelben Mondes
Genau wie ich
Kleines Mädchen vermisst
Frankensteins Sohn
In der Basis sterben
Malkahs Bettlied
Bass und Sopran
Eine Tür geht auf und eine Tür geht zu
Die Gegenwart
Wein mitten in der Nacht
Vignetten aus dem Alltag eines Golems
Wo sich die Elite trifft
Ich kannte sie gar nicht
Brennende Neugier
Wie scheiden wir den Tänzer von dem Tanz?
Wie viel würde es dir ausmachen?
Der Fehler des Räubers
Die Gestaltwandler
Geistesblitze und gefährliche Machenschaften
Stimmen und Gesichte in der Morgendämmerung
Ein Lazarus, zwei Lazarus
Mit den Untoten leben
Der Maharal gewappnet
Wüstenäpfel
Ein Vorgang von gewisser Endgültigkeit
Die Schlacht am Tor
Ein Protokoll kommt zutage
Wahre Geständnisse und öffentlicher Aufruhr
Das Werk des Schadchen
Heller Stern unwandelbar
Kommst du zurück?
Josephs Heimkehr
Samsons Aufgabe
Yods Mitteilung
Auf Chavas Spuren
Shiras Entscheidung
1 Shira
In der Konzernfestung
Josh, Shiras Exmann, saß direkt vor ihr im Familiengericht, wo sie darauf warteten, dass das Urteil über das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Ari auf dem großen Bildschirm erschien. Joshs Dienstanzug war rückenfrei, weiß für den förmlichen Anlass, dem ihren sehr ähnlich. Eine Schweißperle rann die Rinne seiner Wirbelsäule hinab, und selbst jetzt noch fiel es ihr schwer, nicht sanft mit ihrem Schal darüberzustreichen, um sie zu trocknen. Der Yakamura-Stichen-Kuppeldom in der Wüste von Nebraska war selbstverständlich klimatisiert, sonst wären sie alle tot, aber jetzt war Winter, deshalb durfte die Temperatur nachmittags, wenn die Sonne den ungeheuren Kuppeldom um die Konzern-Enklave aufheizte, auf natürliche dreißig Grad Celsius steigen. Auch Shira hatte schweißfeuchte Hände, aber vor Nervosität. Sie war an einem natürlichen Ort aufgewachsen und hatte sich die Fähigkeit bewahrt, mehr Hitze zu ertragen als die meisten Y-S-Grützer. Immer wieder sagte sie sich, dass sie nichts zu befürchten hatte, doch ihr Magen war schmerzhaft verkrampft, und sie merkte, wie sie sich ständig die Lippen leckte. Wann immer sie auf ihrer inneren Uhr die Zeit aufrief und im Augenwinkel auf ihrer Hornhaut ablas, war es höchstens eine Minute später als beim letzten Mal.
Der Raum gleißte in schwarzem und weißem Marmor, höher als breit und auf Einschüchterung angelegt, so wusste Shira aufgrund ihrer Ausbildung in Psychodesign. Ihr eigentliches Gebiet waren die Schnittstellen zwischen Menschen und den gewaltigen künstlichen Intelligenzen, die die Operationsbasis jedes Konzerns bildeten – wie auch jeder anderen Einheit, die Informationen produzierte und verarbeitete. Auch das Netz, das alle Welt miteinander verband. Aber Shira wusste genug über Psychologie, um die Absicht des Saalbaus zu erkennen, wo sie mit ihren zugewiesenen Anwälten saßen, aufrecht und steif wie Stimmgabeln in Erwartung des Schlages, unter dem sie zu Klang erzittern würden. Um sie herum hockten ähnliche Wartegrüppchen: Bruch des Ehevertrags, Sorgerecht, Versäumnis- und Missbrauchsklagen, und alle starrten sie auf den leeren Bildschirm. Von Zeit zu Zeit erschien dort ein Gesicht, eins dieser chirurgisch modellierten Y-S-Idealgesichter – blondes Haar, blaue Augen mit doppelter Lidfalte, gemalte Brauen wie Hokusai-Pinselstriche, Adlernase, dunkelgoldener Teint. Es verkündete ein Urteil, dann wirbelte eine der Gruppen umeinander, stand auf und ging, manche strahlten, manche blickten finster, manche weinten.
Sie brauchte sich gar nicht dermaßen zu fürchten. Sie war ein Techno wie Josh, kein Tagelöhner; sie hatte Rechte. Ihre Hände brüteten feuchte Flecke auf ihren Hüften. Hoffentlich wurde das Urteil bald verkündet. In fünfundvierzig Minuten musste sie Ari in der Mittelstufentechno-Tagesstätte abholen, das waren vom Behördensektor aus rund zwanzig Minuten Gleitweg. Sie wollte nicht, dass er warten musste, dass er Angst bekam. Er war erst zwei Jahre und fünf Monate alt, und sie konnte ihm nicht einfach erklären: Keine Sorge, Mami kommt vielleicht ein bisschen später. Es war ihre Schuld, sie hatte im Dezember auf der Scheidung bestanden. Seitdem war Ari scheu und Josh verbittert, wütend. Doppelt so lebendig. Wenn er in ihrer Ehe die Leidenschaft entfesselt hätte, die ihr Weggang auslöste, hätten sie vielleicht eine Chance gehabt. Er bekämpfte sie mit aller Kraft und Intelligenz, so, wie sie hatte geliebt werden wollen.
Alles war ihre Schuld. Sie hätte Josh nie heiraten dürfen. Sie hatte in ihrem Leben nur ein einziges Mal leidenschaftlich geliebt, zu jung, und dann nie wieder. Aber wenn sie Josh nicht geheiratet hätte, gäbe es Ari nicht. Ja, sie fühlte sich schuldig, als sie auf Joshs schmalen Rücken schaute, auf die Riffel seiner Wirbelsäule, verletzlich, leicht vorgebeugt, als bliese ein kühler Wind nur auf ihn. Sie hatte gelobt, ihn zu lieben, sie hatte versucht, ihn zu lieben, aber die Beziehung hatte sich seicht und unvollständig angefühlt.
In der Zeit vor der Heirat dachte sie noch, er lerne langsam, mit ihr zu reden, sinnlicher und direkter zu reagieren. In dem wiederbelebten Schintoismus von Y-S waren sie beide Marranos, der Ausdruck war von spanischen Juden entlehnt, die sich unter der Inquisition als Christen ausgegeben hatten, um zu überleben. Y-S pflegte eine Art Erweckungs-Schintoismus, dem christliche Bräuche wie Taufe und Beichte aufgepfropft waren. Marranos waren im zeitgenössischen Sprachgebrauch Juden, die für Multis arbeiteten, in die Kirche oder Moschee gingen und Lippenbekenntnisse ablegten, dabei aber im stillen Kämmerlein Judaismus praktizierten. Alle Multis hatten ihre offizielle Religion als Teil der Konzernkultur, und alle Grützer mussten sie pro forma übernehmen. Wie Shira pflegte auch Josh die Gewohnheit, Freitagabend bei sich Kerzen anzuzünden, die Gebete zu sprechen, die Feiertage einzuhalten.
Читать дальше