Es schien vernünftig, zu heiraten. Er war seit zehn Jahren bei Y-S. Sie kam direkt von der Universität, mit dreiundzwanzig. Y-S hatte die anderen Multis überboten und sie in Edinburgh angeheuert – wie die meisten begabten Schulabgänger aus Norika, dem einst aus USA und Kanada bestehenden Kontinent, hatte sie im prosperierenden Sektor Europa studiert –, und so blieb ihr keine Wahl als hierherzukommen. Sie hatte sich sehr allein gefühlt. Die rigide, einem strikten Protokoll folgende Hierarchie von Y-S befremdete sie. Sie war in der freien Stadt Tikva aufgewachsen, war an warme Freundschaften mit Frauen gewöhnt und an Männer, die ihre Kameraden sein konnten. Hier war sie verzweifelt einsam und eckte ständig an. Oft fragte sie sich, ob ihre Schwierigkeiten speziell mit der Y-S-Konzernkultur zu tun hatten oder ob sie sich in jeder Multi-Enklave gleich bleiben würden. Es gab dreiundzwanzig große Multis, die die Welt unter sich aufteilten, mit Enklaven auf jedem Kontinent und auf Raumstationen. Gemeinsam übten sie die Macht aus und erzwangen den Konzernfrieden: Überfälle, Attentate, Scharmützel kamen vor, aber keine Kriege seit dem Vierzehntagekrieg von 2017.
Josh war als Sohn israelischer Eltern geboren worden, Überlebenden des Vierzehntagekrieges, den ein Terrorist mit einer nuklearen Vorrichtung angezettelt hatte, welche Jerusalem von der Landkarte brannte. Ein Inferno biologischer, chemischer und nuklearer Waffen, das die Ölfelder entzündete und die gesamte Region verwüstete. Mit zehn Jahren wurde Josh zur Vollwaise und zog ohne Heimatland umher. Das war die Zeit, welche die Juden Die Wirren nannten, als die ganze Welt ihnen die Katastrophen zur Last legte, die in einem Mahlstrom von wirtschaftlichem Chaos der Ölabhängigkeit den Garaus machten. Nichts war ihm in seinem Leben je zugefallen. Je mehr er sie an sich heranließ und ihr erzählte, desto kostbarer erschien er ihr, in dieser emotional aufgeladenen Zeit vor ihrer Heirat, und desto mehr meinte sie, ihm absolut unersetzlich zu sein. Sie war erstaunt darüber, dass sie ihn anfangs als kalt empfunden hatte. Wie hatte er gelitten! Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen.
Allmählich schien er sich zu öffnen. Kurz nach ihrer Heirat, auf der er bestanden hatte, begann er sich zurückzuverwandeln. Er gab sich glücklich. Er wirkte entzückt von ihr – doch nur aus sicherem Abstand. Sie näher kennenzulernen, sein Seelenleben mit ihr zu teilen und Anteil an dem ihren zu nehmen, solcher Zeitvertreib schien ihm müßig, entbehrte der Dringlichkeit. Ari sollte die Kluft zwischen ihnen überbrücken. Seit der Geburt ihres Sohnes konzentrierte sich Joshs ganze Freizeitenergie auf Ari. Oft beschlich sie der Verdacht, hätten sie Ari nicht, so gäbe es gar nichts, worüber sie reden könnten. Das Schweigen gellte ihr in den Ohren. Bald kochte sie vor Groll. Sie fochten täglich vierzig Zweikämpfe aus, um nichts. Ihre Großmutter Malkah hatte es ihr prophezeit, als sie Josh heiratete: Sie hatte einen folgenschweren Fehler begangen. Ihr Zusammenleben vereinte die Nachteile des Alleinseins und des Lebens mit einem Fremden. Meinungsverschiedenheiten wurden zu ihrer Hauptbeschäftigung. Sie war in einem liebevollen Haushalt aufgewachsen, denn Malkah war resolut und eigensinnig, aber auch warmherzig und fröhlich. Man musste nicht pausenlos erbitterte Kleinkriege austragen. Shira hatte alle Kraft zusammengenommen und ihn verlassen.
Sie rief wieder die Zeit auf ihre Hornhaut. Nur vier Minuten waren vergangen, seit sie zum letzten Mal nachgesehen hatte. Schließlich erschien das langschädelige Gesicht und sprach auf seine modulationsarme Weise ihre Namen: Joshua Rogovin und Shira Shipman, in Sachen Sorgerecht für das Kind Ari Rogovin. – Nicht einmal bei Y-S mit seiner männerdominierten Kultur änderten Frauen ihren Namen. Ehen basierten auf Fünf- oder Zehnjahresverträgen, und Namensänderungen ohne besonderen Anlass waren unwirksam. Trotzdem bekam Shira eine Gänsehaut, als sie hörte, wie Ari der Name seines Vaters gegeben wurde. So hatte sie ihn nicht eintragen lassen bei der Geburt, aber Y-S missachtete ihre Entscheidung.
»In vorliegender Angelegenheit lautet das Urteil der Geschworenen, dem Vater Joshua Rogovin, Status T12A, das Sorgerecht zu erteilen und der Mutter Shira Shipman, Status T10B, Besuchsrecht zweimal wöchentlich, mittwochs und sonntags. Dieser Spruch erging am 28. Januar 2059, automatische Überprüfung am 28. Januar 2061. Spruch registriert. Ende.«
Josh wandte sich auf seinem Sitz um und starrte sie finster an. Sein Anwalt strahlte und klopfte ihm auf die Schulter. »Was habe ich Ihnen gesagt? Im Sack!«
»Das können sie doch nicht machen!«, sagte Shira. »Sie können mir nicht Ari wegnehmen!«
Josh schnitt eine Grimasse, fast ein Lächeln. »Jetzt gehört er mir. Er ist mein Sohn, er ist ein Rogovin.« Seine hellen Augen, irgendwo zwischen Grau und Blau, schienen ihren Schmerz wahrzunehmen und abzutun.
»Ihr Exmann hat einen höheren Technodienstgrad als Sie«, sagte ihr Anwalt. »Ich habe Sie gewarnt, dass das berücksichtigt wird. Sie hängen seit drei Jahren im gleichen Dienstgrad fest.«
»Ich lege Einspruch ein. Ari braucht mich.« Und ich brauche ihn, dachte sie.
»Das ist Ihre Entscheidung. Wenn Sie mich fragen, vergeuden Sie Ihre Kredite. Natürlich vertrete ich Sie, wenn Sie das wünschen.«
Josh und sein Anwalt waren schon hinausgerauscht. Shiras Anwalt stand über sie gebeugt, ungeduldig wippte er mit einem Fuß. »Ich habe einen Termin mit einem anderen Mandanten. Überdenken Sie das mit dem Einspruch. Ich kann das Verfahren morgen in die Wege leiten, wenn Sie wollen.«
Unvermittelt stand sie auf und stürzte zum Ausgang, als ihr einfiel, dass sie zu spät zu Ari kam. »Bereiten Sie den Einspruch vor«, rief sie über die Schulter. »Ich gebe ihn nicht her.«
Sie sprang auf die Eilspur des gleitenden Gehwegs und hüpfte leichtfüßig von Bahn zu Bahn. Das galt als ungehörig für Grützer – Glop-Slang für die höheren Angestellten und das technische Personal der Multis –, obwohl die Tagelöhner es andauernd taten, aber das war ihr jetzt egal. Sie wollte nur schnell zu Ari. Sie eilte an der Spinnwebarchitektur des Dienstviertels vorbei. Unter dem Kuppeldom gab es kein Wetter, und kein Gebäude konnte höher als sechs Stockwerke sein. Darum herrschten lange, parabelförmige Kurven vor, bizarre Spindeln und labyrinthische Gitter aus glitzerndem, durchsichtigem Filigran. Beinahe alles war schwarz, weiß oder blau, wie die rückenfreien Dienstanzüge, die bis zur Wadenmitte hinabreichten und die alle Grützer trugen. Nahezu jeder Leitende, Mann oder Frau, war unter dem Messer gewesen, um dem Y-S-Ideal zu gleichen, das Gesicht dem vom Bildschirm so ähnlich, wie die Finanzen es erlaubten.
Die Technos, die auf den Gleitern vorbeihuschten, sahen schon unterschiedlicher aus, aber auch sie trugen Anzüge in den abgesegneten Farben. Angehörige gleichen Dienstgrades grüßten einander mit ritueller Geste, einem kurzen Kopfnicken. In der Rangordnung tiefer Stehende ignorierte man gewöhnlich. Kam man an Höherrangigen vorbei, wartete man, bis man bemerkt wurde, und verneigte sich dann tief. Wie oft war sie schon in Schwierigkeiten geraten, weil sie sich so intensiv unterhalten hatte, dass sie unabsichtlich versäumte, einen Gleichrangigen oder Vorgesetzten zu grüßen. Die Tagelöhner trugen Overalls oder Uniformen in Gelb-, Braun- und Grüntönen: die Farben gemäß ihren Arbeiten. Wenn sie zur falschen Zeit am falschen Platz waren, fiel das sofort auf. Shira sprang von Bahn zu Bahn, es war ihr gleichgültig, wer sie sah, wer sie anzeigte – als würdelose Person, die den Y-S-Anstand vermissen ließ. Sie fühlte sich hier sowieso immer zu körperlich, zu laut, zu weiblich, zu jüdisch, zu dunkel, zu überschwänglich, zu gefühlvoll.
Die Tagesstätte für die Kinder von Mittelstufentechnos lag jetzt unmittelbar vor ihr, hinter einer hohen Hecke bunter Krotonsträucher. Über dem Eingang hing schlaff die blau-weiß-schwarze Y-S-Fahne. Sie hatte sich noch nicht allzu sehr verspätet, denn sie sah ein paar versprengte Mütter und einen Vater, während sie das letzte Stück vom nächsten Gleiter rannte. Ihr fiel ein, dass sie nie einen Erwachsenen durch diese Straßen rennen sah. Jedem war viel zu sehr bewusst, dass er beobachtet wurde, beurteilt. Dies war der Bezirk der Mittelstufentechnos, kleine Häuser, jedes auf seinem Grundstück. Sie hatte mit Josh in einem davon gewohnt. Vier Häusertypen für diese Schicht, mit den gleichen abgesegneten Sträuchern und gepflegtem Rasengeviert, aber freier Farbwahl. Niemand wählte Rot oder Violett. Die einzigen Verkehrsmittel, die sich auf den Mittelstreifen bewegten, waren Servicefahrzeuge: Lieferwagen, Reparatur- und Notfallwagen, Sicherheitsaffen, alles Elektrovehikel, die eintönig piepten.
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