Wenn der Staatschef in dieser Zeit einmal keine Reden hielt, so weihte er neu gegründete Dörfer für junge Familien ein oder legte symbolisch den Grundstein für neue Fabriken oder monumentale Bauten.
Frank war bei einem Teil seiner Reise dabei und von dem frischen Auftreten seines Freundes begeistert. Immer wieder berauschte auch er sich an den Meeren aus Russland- und Drachenkopffahnen, die Tschistokjows Massenkundgebungen stets begleiteten.
Den Höhepunkt aller Veranstaltungen der Freiheitsbewegung stellte jedoch der „Tag der russischen Einheit“ in der Nähe von Tula dar. Das gewaltige Massenspektakel fand Mitte April 2044 zum ersten Mal statt und wurde ein voller Erfolg. Ganze Regimenter der Volksarmee und der Warägergarde traten an und nicht weniger als zwei Millionen Besucher kamen. Es waren so viele, dass das eigens für diese Veranstaltung angelegte Versammlungsgelände sie gar nicht alle fassen konnte.
Artur Tschistokjow eröffnete das Spektakel mit einer fast dreistündigen Rede und legte dem gewaltigen Ozean von Menschen vor sich noch einmal die Gründe dar, die ihn vor vielen Jahren dazu veranlasst hatten, den Kampf gegen die Weltregierung und die dahinter stehenden Kräfte aufzunehmen. Anschließend sprach er vom Sieg über den Kollektivismus und würdigte den Opfermut seiner tapferen Soldaten im Kampf gegen Uljanin. Er predigte von der Einheit des russischen Volkes und beschwor ein neues Zeitalter des Aufstiegs, das auf Europa wartete.
Frank, Julia, Alf und Wilden standen tief beeindruckt auf der riesigen Bühne aus weißem Kalkstein neben ihrem alten Gefährten, der das Herz der Masse erneut für sich gewinnen konnte, wie es kein zweiter vermochte. Die Menschenmenge bebte vor Begeisterung. An ihren Rändern ragten große, weiße Säulen, die mit riesigen Drachenkopffahnen behängt waren, in den Himmel hinauf. Sie boten ein Bild der Pracht und Stärke.
Drei Tage dauerte die pompöse Feierlichkeit der russischen Einheit, und als Frank und die anderen wieder nach Hause zurückkehrten, waren sie sich sicher, dass Artur Tschistokjow, trotz allen Verhandlungen mit der Weltregierung, nach wie vor der Alte war und nichts von seinem revolutionären Geist verloren hatte.
Frank, Alf und Wilden spazierten durch den größten Park von Minsk und genossen den sonnigen Tag. Wie üblich brachte der Außenminister das Gesprächsthema schnell in Richtung Politik.
„Vielleicht haben wir Artur auch falsch eingeschätzt. Er weiß schon, was er tut“, bemerkte Alf und schloss mit forschem Schritt zu Frank und dem älteren Herrn auf.
„Ich bin schon vierzig, Leute! Vierzig!“, jammerte Kohlhaas und ging nicht auf Bäumers Aussage ein.
„Nun, ich bin ja auch dafür, dass wir uns vorerst nicht in einen neuen Krieg stürzen, aber ich bin mir sicher, dass diese so genannte Friedenspolitik des Weltverbundes nur so lange halten wird, bis dieser genug Soldaten versammelt hat, um uns anzugreifen“, bemerkte Wilden.
„Scheiße, ich bin alt! Vierzig!“, quäkte Frank dazwischen. Wilden schüttelte den Kopf.
„Ich auch und lebe noch immer“, flachste Alf, wobei er seinen Freund liebevoll in den Schwitzkasten nahm.
„Na, bist du bald auch ein Opi?“, lachte der Hüne.
Frank knuffte Bäumer in die Seite und klagte weiter über die Schrecken des Altwerdens.
„Dann benehmt euch auch gefälligst wie alte, weise Männer!“, mahnte Wilden und erklärte dezent, dass er das 40. Lebensjahr für noch recht jung hielt.
„Klar, du warst ja bereits da, als die Pyramiden noch gebaut wurden“, blödelte Kohlhaas. Der Außenminister schmunzelte.
„Wie auch immer, Artur ist in den letzten Monaten irgendwie sehr schweigsam geworden – uns gegenüber. Ist euch das auch aufgefallen?“, fragte Wilden seine jüngeren Freunde.
„Nein, keine Ahnung. In meinem Alter fällt einem so etwas nicht mehr auf. Mir rieselt nur noch der Kalk aus der Nase“, scherzte Frank. Alf schubste ihn nach vorne.
„Spinner!“
„Ich meine damit vor allem, was seine militärischen Vorhaben betrifft. Er sagt darüber kaum noch etwas. Weder mir, noch den anderen Kabinettsmitgliedern. Von Verteidigungsminister Lossov abgesehen“, sagte der ältere Herr.
„Ich bin vierzig! Ihr könnt mich in die Tonne kloppen!“, brüllte Frank einigen Enten am gegenüberliegenden Teich zu, während die mit dieser Tatsache überforderten Tiere laut quakend davon flatterten.
„Jetzt reicht’s aber, Frank!“, schimpfte der Außenminister, dabei erinnerte er Kohlhaas an einen Schullehrer.
Bäumer blieb hingegen ernst und stimmte Wilden zu. „Ich habe in den letzten Monaten eigentlich nur an ein paar Übungen der Warägergarde teilgenommen, aber sie ist stark angewachsen. Das kann ich definitiv sagen. Außerdem haben wir ja jetzt so eine Art Frieden und Artur macht ganz den Eindruck, als ob er sich auch an seine Zugeständnisse halten will“, sagte Alf.
Wilden sah zu Frank herüber. „Und? Siehst du das auch so?“
„Keine Ahnung, Onkel Außenminister! Mich brauchen die Waräger sowieso nicht mehr, denn ich bin vierzig!“
„Der Achilles von Weißrussland hat heute eine Schraube locker!“, bemerkte Bäumer genervt.
„In meinem Alter nennt man das Demenz!“, rief Frank.
Der ergraute Außenminister räusperte sich, er kratzte sich am Kopf. Alf folgte ihm und ließ den sich unmöglich benehmenden Kohlhaas zurück.
„Vierzich … and still alive!“, hörten die beiden hinter sich.
„Glaubst du, dass wir jemals Deutschland befreien werden?“, fragte Wilden schließlich.
„Es wäre schön, aber das gäbe den nächsten Krieg“, antwortete Bäumer.
„Vierzich … and not fucking dead!“, hallte es aus der Ferne über das Parkgelände.
„Aber dafür sind wir einst angetreten, Alf. Wir haben die Chance, die Macht der Logenbrüder eines Tages zu brechen, und es ist unsere verdammte Pflicht das zu tun. Sie dürfen nicht siegen!“, murmelte Herr Wilden nachdenklich.
„Wenn das alles so einfach wäre …“, erwiderte Alf und drehte sich noch einmal zu Frank um.
„Deutschland und Europa warten auf die Freiheit. Entweder wir siegen oder alles geht unter. Es gibt da keine Alternative. Der Frieden mit dem Teufel ist nie von langer Dauer“, erklärte der Außenminister.
Für Frank sollte es noch schlimmer kommen. Der 18. Oktober, Franks 41. Geburtstag, stand eines Tages frech auf dem Kalenderblatt und erinnerte ihn wiederum an sein fortschreitendes Alter. Wie immer bereitete ihm ganz Ivas einen großartigen Empfang und die Zeitungen in den Grenzen des Nationenbundes der Rus beehrten ihn mit ihren üblichen Lobeshymnen.
Kohlhaas selbst feierte schließlich im Kreise seiner Familie und der engsten Freunde. Die Wildens hatten ihr ganzes Haus für die Geburtstagsfeier zur Verfügung gestellt und alle fünf Minuten klingelte jemand an der Tür, um ihm noch zu gratulieren. Alf hatte ihn schon den halben Tag geneckt und ihm als allererstes „viel Spaß im Alter“ gewünscht. Frank hatte schmunzeln müssen und fand sich mittlerweile mit der Tatsache, dass er sein 4. Lebensjahrzehnt erreicht hatte, ab.
„Ich fühle mich aber viel jünger!“, betonte er bei jeder Gelegenheit, was sogar Julia einige Lacher entlockte.
Im Grunde konnte er froh sein, dass er überhaupt so alt geworden war, denn Frank war dem Tod in seinem bisher so turbulenten Leben mehr als einmal von der Schippe gesprungen.
„Was machen wir denn heute noch?“, wollte Bäumer wissen, er torkelte schon stark angeheitert durch das Wohnzimmer.
„Saufen und vergessen!“, witzelte das Geburtstagskind, das Glas auf sich selbst erhebend.
„Ey, Fränk! Komm mal mit!“, flüsterte Alf und zog ihn an der Schulter fort.
„Was ist denn los?“
„Komm mal mit. Ich kann das hier nicht vor allen sagen“, wisperte ihm der Freund ins Ohr.
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