»Lässt du dich so schnell irritieren?«, fragte der Säugling durch seine Gedanken und drehte sich musternd zu Michail. Ein sanftes Lächeln umspielte Chris’ Lippen – tapsig hob er einen Arm in Richtung Michail.
Aus dem Augenwinkel heraus sah Sandra die Bewegung und ihre tränennassen Augen erfassten den leuchtenden Blick des Sohnes, der in die Ferne zu schweifen schien.
Die eingeleitete Fahndung nach Tafari Ballo erübrigte sich nur einen Tag nach Alarm »W69«. Der im Hampton Inn hinzugezogene Arzt reagierte gewissenhaft und ließ beim Anblick Tafaris aus Sicherheitsgründen das komplette Hotel unter Quarantäne stellen. Bemerkenswert, wie er mit dem Hotelmanager streiten musste, der diese Maßnahme als völlig überzogen, ja geschäftsschädigend ansah. Wegen unbedeutenden Nasenblutens gleich das gesamte Areal abzusperren … Der Manager tobte, als ein heller Krankenwagen mit der Aufschrift »Grady EMS« vorfuhr, Sanitäter in weißen Schutzanzügen ausstiegen und mit übergestülpten Schutzmasken die Eingangshalle betraten.
Das wenig später eintreffende Militär sicherte ebenfalls in raumfahrerähnlichen Anzügen weiträumig das Gelände und ordnete die Bewachung sämtlicher Ein- und Ausgänge an. Über die Lautsprecheranlage des Hotels wurden Gäste wie Angestellte aufgefordert, Ruhe zu bewahren. In kürzester Zeit funktionierte man den Speisesaal um. Feldbetten wurden aufgestellt, haufenweise Aluminiumkoffer mit technischem Gerät untergebracht. Es folgte eine vollzählige Registrierung aller anwesenden Hotelgäste in Listen, ebenso erfasste man jene, die bereits ausgecheckt hatten. Die Informationslisten übergab man unmittelbar dem FBI mit dem Ziel, einen lückenlosen Nachweis sicherzustellen, zu welchen weiteren Personen die etwaigen Infizierten Kontakt gehabt hatten. Ein Unterfangen, welches das FBI gerne mit »Sessa« verglich, der bekannten Legende der Reis- oder Weizenkörner auf dem Schachbrett. Erst eins, dann zwei, dann vier, dann acht …
Verängstigte Menschen wurden befragt, ob sie eine direkte, wie sie es nannten, »Interaktion« mit jenem Farbigen hatten, der bereits in die Quarantäne-Klinik nach Atlanta gebracht worden war. »Geht es Ihnen gut? Fühlen Sie sich fiebrig?« Die gestellten Fragen sowie die Blutproben, die jeder Person entnommen wurden, trugen nicht gerade zur Entspannung bei. Unübersehbar wurde ein jeder mit afroamerikanischer Abstammung skeptisch fixiert oder gar gereizt gemieden und nur wenige Stunden nach Einleitung der Schutzmaßnahmen kam es zu ersten Handgreiflichkeiten.
Ein Mann Mitte dreißig, gekleidet in grauem Seidenanzug, stand laut fluchend im Foyer und versuchte den Ausgang zu passieren. Als ihm sein Wunsch verwehrt wurde, rempelte er den Beamten im Schutzanzug zur Seite. Zwei stämmige Soldaten waren gezwungen, den Anzugträger unsanft auf die Knie zu zwingen, bevor sie ihm Handschellen anlegten. Selbiger Akt der Freiheitsberaubung verbreitete sich zwar wie ein Lauffeuer im Gebäude – sorgte indes aber für Einkehr von Ruhe.
Sergeant Major Boyle war abgestellt, die vorgefahrene Presse zu beruhigen. Er war Experte darin, mit beschwichtigenden Phrasen die Pressevertreter vorerst ruhig zu stellen, ohne auf Details einzugehen. »Reine Vorsichtsmaßnahme – noch wisse man nichts Genaueres – keine voreiligen Spekulationen der Presseleute …«
Die Information aus New York, die Dr. Kleinschmidt vorgelegt wurde, enthielt folgende Botschaft:
Erkrankte Person, männlich, farbig, Anfang 30. Transport dreizehn fünfundvierzig nach Grady, Atlanta. Festgestellter Todeszeitpunkt sechzehn null eins. Innerliche Blutungen, Schock, multiples Organversagen. Angereist mit Flugnummer AA407 – Burkina Faso – Ankunft New York zweiundzwanzig vierundzwanzig mit Zwischenlandung Brüssel – Weiterflug Miami. Flugsicherung alarmiert; Passagierlisten aktiv. Erste Laborergebnisse aus Grady werden nochmals geprüft. Unbekannte Virenart der Spezies Filoviridae. Laborbefunde anbei.
Passagierlisten aktiv, dachte Dr. Kleinschmidt. So eine Scheiße. Patient 3, verstorben, hatte sich ungehindert, nichtsahnend, in Belgien und den USA bewegt. Ohne Zweifel war er im Ballungsraum der Flughafengelände mit Hunderten, wenn nicht Tausenden Menschen in Kontakt gekommen. Wenn auch nicht direkt, so indirekt.
Zeitspanne Ansteckung bis Exodus des Patienten: ebenfalls geschätzte acht bis zwölf Stunden. Dr. Kleinschmidt ahnte bereits, welchen Befund der Laboruntersuchungen aus den USA er vorfinden würde. Seine Vermutung bestätigte sich – Deckungsgleichheit mit den Ergebnissen aus Burkina Faso. Es war an der Zeit, den Präsidenten zu unterrichten.
Albany, Wedgewood Drive: Die alte Dame mit violett gefärbten Haaren, brauner Safarihose, weißer Bluse und Sportschuhen bekam das Ende nicht mehr mit. Gerade erst aus Westafrika heimgekehrt, lag sie besinnungslos und blutend auf dem Fußboden ihrer Küche und noch bevor die inneren Organe versagten, erstickte sie an ihrem Erbrochenen.
Kapitel 30: Sechs Jahre Elend
Die Pandemie erfasste große Teile Europas sowie weitere Kontinente. Mehr als 54 Millionen Menschen starben in den Jahren 2016 bis 2021 einen erbarmungslosen blutigen Tod. Dann, so wie die Seuche gekommen war, verebbte sie abrupt. Man fand trotz der Zusammenarbeit internationaler Wissenschaftler kein Gegenmittel zu dem nach seinem Entdecker benannten »Guambo-Virus«.
Über die katastrophale Pandemie hinaus beschäftigte ein expandierendes »Krebsgeschwür« Politiker aller Nationen. Unaufhaltsam wütete ein radikal geführter Krieg terroristischer Mächte unter dem Deckmantel der »wahren Religion« und brachte die Kriegsmächte so weit, mit immer drastischeren und grausameren Aktionen zu antworten. Es war kein Krieg der Fronten – Auge in Auge, sich auf dem Schlachtfeld gegenüberstehend. Es war ein regelrechtes Abschlachten, darauf ausgelegt, unverhofft und mit grausiger Brutalität die Zivilbevölkerung zu treffen. Anschläge auf zivile Opfer waren an der Tagesordnung. Bombardierte man Ölfelder oder Stellungen der Terrormilizen, folgten Vergeltungsschläge auf dem Fuße. Meldete man Erfolge zurückeroberter Landgebiete, folgten hierauf Verlustmeldungen aus anderen Regionen.
Die Menschen beäugten sich gegenseitig argwöhnisch: Andersartig gekleidet? Verschiedenartige Hautfarbe? Bartwuchs oder nicht? Alles und jeder erschien verdächtig.
Durchgesetzte Kriegsrechte wurden wieder zurückgenommen, um kurz darauf von Neuem verhängt zu werden. Gefängnisse vieler Länder waren bis zum Bersten gefüllt, Geheimdienste mächtiger Nationen in höchster Alarmbereitschaft.
Digitale Kriegsführung wurde zu einer neuen, bisher nicht gekannten Waffe: Hacker initiierten Angriffe auf zentrale Knotenrechner des Internets. Man sperrte Bankkonten, verbreitete Propaganda, zeigte Videos grausamster Art, Medien berichteten live »von der Front«.
Die Religion trat in den Mittelpunkt der Ereignisse. Ein jeder berief sich auf seinen Glauben, seinen Gott, seinen Messias, seinen Allah … Erleuchtete Propheten, auf Kartons oder Bierkästen stehend, säumten die Straßen der Städte, um aus voller Kehle den Weltuntergang zu prophezeien. Etliche der Prediger fanden verängstigte »Gläubige«, die sich ihnen anschlossen. Nicht der Verlust von Hab und Gut war hierbei tragisch – nein, die Hoffenden verloren ihre Seelen, während die vermeintlichen Propheten sich die Konten füllten.
Verkündete der Papst das Wort Gottes, hingen Hunderttausende auf dem Petersplatz in Rom an dessen Lippen. Sprach ein Kalif, so war das Bild das gleiche. »Wir führen einen heiligen Krieg, so wie es geschrieben steht.«
Im Verlauf der Kriege und Seuchen, die Millionen von Menschen aus dem Leben rissen, schlich eine weitere Gefahr – bekannt, jedoch verdrängt – auf leisen Sohlen heran. Man wusste von ihrer Existenz – doch man fand zu keiner Einigung. Langsam, Jahr für Jahr, drängte das Quecksilber der Thermometer Millimeter für Millimeter in Richtung Norden.
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