„Herrje, Darius!” Heribert verdrehte entnervt die Augen, „jedenfalls sind alle Verfahren im Sande verlaufen. Er scheint einflussreiche Freunde zu haben.”
Er wandte sich wieder Gertrud zu: „Ich erkläre Ihnen zuerst die Rechtslage, dann unterhalten wir uns darüber, was wir trotzdem unternehmen können.”
Gertrud nickte und ich war gespannt, mit welcher Überraschung unser deutsches Recht in diesem Fall, den ich natürlich nicht objektiv betrachten konnte, aufzuwarten hatte.
„Eine der Polizeidienstvorschriften, die wir zu beachten haben, es ist die 389, regelt unseren Einsatz bei Vermissten, unbekannten Toten und unbekannten hilflosen Personen. Als vermisst gelten danach Personen, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, ihr Aufenthalt unbekannt ist und – das ist entscheidend – wenn eine Gefahr für Leben und Gesundheit angenommen werden kann. Bei Kindern und Jugendlichen wird grundsätzlich von dieser Gefahr ausgegangen. Deshalb nehmen wir bei einem vermissten Kind oder Jugendlichen auch gleich die Ermittlungen auf.
Bei vermissten Personen, die über 18 Jahre alt sind, beginnen wir nur bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen mit den Ermittlungen. Dazu müssen nämlich konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Zum Beispiel Hinweise darauf, dass ein Unglück oder eine Straftat vorliegen könnte. Stellen Sie sich vor, Frau Faber, Renate hätte eine Bergtour gemacht und würde nach Ende des Urlaubs nicht nach Hause kommen. Wenn sie dann von ihrem Mann oder von Ihnen als vermisst gemeldet würde, würden wir sofort die Ermittlungen aufnehmen. Das Gleiche gilt, wenn jemand verschwindet, der geistig verwirrt oder suizidgefährdet ist.”
„Und wenn wir einfach eine Gefahr unterstellen, etwas konstruieren?”, dachte ich laut nach.
„Vergiss es! Wenn wir Renate tatsächlich auffinden würden und es sich weiterhin herausstellte, dass sie ganz bewusst von zuhause weggegangen ist, dann dürften wir den Angehörigen nur dann ihren Aufenthaltsort preisgeben, wenn sie damit einverstanden wäre.”
„Aber was tun wir nun? Darius? Herr Koman? Ich mache mir halt Sorgen.”
„Frau Faber hat Recht. Dieses Verhalten ist nicht typisch für Renate”, stimmte ich ihr zu.
„Natürlich könnte ihr etwas zugestoßen sein. Aber sie ist ein freier Mensch. Wissen Sie, Frau Faber, jährlich werden etwa 100 000 Menschen in der Bundesrepublik als vermisst Gemeldete registriert, etwa 45 000 Kinder und Jugendliche und 55 000 Erwachsene. Die meisten sind kurze Zeit später wieder zuhause.”
„Und innerhalb wie kurzer Zeit?”, fragte Gertrud unsicher.
„90 Prozent dieser Fälle regeln sich innerhalb eines Monats.”
„Und was ist mit den restlichen zehn Prozent?”
„Solange noch Hoffnung besteht, werden auch die nicht so einfach zu den Akten gelegt. Ein Kollege aus Wien erzählte mir, dass seit 1998 ganz oben auf seinem Schreibtisch der Ermittlungsvorgang eines entführten Mädchens liegt, den er immer wieder aufnimmt. Der Fall dieser Natascha Kampusch, so heißt sie, glaube ich, geistert daher auch immer wieder durch die österreichische Presse. Er wird erst dann abgeschlossen sein, wenn Gewissheit über ihr Schicksal besteht.”
„Also, was schlägst du nun vor?” Ich fand, dass Heribert unsere Geduld etwas zu sehr strapzierte.
„Die Idee mit dem Privatdetektiv ist in diesem Fall grundsätzlich nicht unbedingt schlecht.”
„Aber?”
„Ich betrachte die Erfolgsaussichten ohne weitere Anhaltspunkte als äußerst gering. Wir sind nicht in den USA. Bei polizeilichen Maßnahmen haben wir Möglichkeiten, die einer Privatdetektei nicht zur Verfügung stehen. Wir können eine normale Fahndung anlaufen lassen, das ganze Programm, je nach Sachlage.”
„Und was wäre das? Vielleicht kann ich ja etwas aus diesem Programm, wie du es nennst, übernehmen.”
Heribert runzelte die Stirn. „Das ist eine ganze Palette. Da ist zuerst einmal die Durchsuchung aller Wohnungen, in denen Renate gelebt hat, und die Befragung der Personen im sozialen Umfeld, die Auswertung von Tagebüchern, Adressbüchern, Briefen, Computerdaten. Dann der Abgleich mit Daten, also zum Beispiel Passagierlisten, Kreditkartenumsätze, Telefonverbindungen, Krankenhäuser, unbekannte Tote und eventuell die Register der Botschaften. Genügt das?” Er hielt inne.
„Weiter”, forderte ich
„Na gut. Ortungen, Absuchen bestimmter Gebäude und Landstriche, Öffentlichkeitsfahndung mit Kfz-Kennzeichen, Aushang ihres Fotos bei den Polizeistationen, Handzettel, Steckbriefe in öffentlichen Gebäuden, Funkrundsprüche, Aufrufe im Internet und im Rundfunk, Aktenzeichen XY und so weiter. Such dir etwas aus!”
Ich horchte auf. „Ortungen? Sagtest du Ortungen? Ihr Handy …” Die zaghafte Hoffnung wurde durch Heriberts Kopfschütteln schneller erstickt als sie aufgeglommen war. Ich schaute Gertrud an, aber sie schien Heriberts Aufzählung überhaupt nicht registriert zu haben.
Unvermittelt fragte sie: „Und wenn sie sich überhaupt nicht mehr meldet?” Lange genug hatte sie Haltung bewahrt, aber nun war die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht mehr zu überhören.
„Damit müssen Sie rechnen, Frau Faber. Auch das kommt immer wieder vor. Manche Menschen sehen in ihrer Verzweiflung nur die Flucht aus ihrem sozialen Umfeld als einzige Chance zum Neubeginn.”
„Ist das nicht feige? Das ist doch nicht meine mutige Renate?”, murmelte Gertrud fast unhörbar.
Heribert schüttelte energisch den Kopf. „Im Gegenteil. Es gehört Mut dazu, sein gewohntes Umfeld zu verlassen. Feige ist es, wenn jemand einer Katastrophe entkommt und diese Situation zum Verschwinden nutzt. So, wie es wohl Hunderte bei dem Tsunami vor einem viertel Jahr gemacht haben dürften. Renate ist eine selbstbewusste und erfahrene Frau. Sie bestimmt ihr Leben nach ihren eigenen Regeln und Vorstellungen. Wir müssen das respektieren.”
„Aber sie ist doch mein Kind. Wir hatten doch immer eine enge, vertrauensvolle und innige Beziehung! Seit dem Tod ihres Vaters,sie war damals fünf Jahre alt, gab es nur noch uns. Schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren hat sie in ihrer Freizeit in der Kanzlei mitgearbeitet. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander, bis …”. Sie griff zu einem Papiertuch und wischte sich über die Augen.
Heribert hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet und fragte mit rauer Stimme: „Bis …? Gibt es ein Schlüsselerlebnis, ein Ereignis, einen Zeitpunkt, an dem Sie eine Veränderung in ihrem Verhalten festmachen können?”
„Jetzt, wo Sie so direkt fragen, fällt mir etwas ein. Schon im letzten Sommer hatte ich den Eindruck, dass sie etwas bedrückt. Auf meine Nachfragen hat sie aber nur ausweichend geantwortet. Sie sagte etwas von der Arbeitsbelastung auf dem Weingut, langwierige Diskussionen mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter wegen Nichtigkeiten. Es wären halt die typischen Konflikte, wenn man Familie und Beruf verquicken würde, nichts Dramatisches, das würde sich schon wieder legen, sagte sie.”
„Sonst noch etwas, Gertrud?”
„Ja, da war noch etwas.” Sie überlegte kurz. „Seitdem wurde sie noch einsilbiger. Renate hat ja auch immer noch ihr Zimmer hier im Haus. Mit Kindheitserinnerungen und all ihren Unterlagen aus der Ausbildung bei dir, Darius, und von der Polizeischule. Auch von später noch, als sie schon in Mainz diese Sonderkommission übernommen hatte, hat sie noch Papiere in ihrem Schreibtisch. Kurz vor Weihnachten letztes Jahr war sie hier, weil sie etwas nachsehen wollte. Es hätte etwas mit ihrem früheren Chef zu tun.”
„Hat sie einen Namen genannt?” Heribert blickte sie angespannt an.
„Darauf besinne ich mich nicht mehr. Aber er war wohl einige Tage zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.”
„Etwa Korfmann, Ulf Korfmann?”
„Ja, genau, das war sein Name. Hat das etwas zu bedeuten?” Heribert zuckte mit den Schultern, wirkte aber plötzlich merkwürdig erleichtert. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Der Kollege Korfmann hatte nach dem Ausscheiden ihrer Tochter als Leiter desKommissariats vorübergehend auch die Leitung der SoKo übernommen. Würden Sie mir denn die Unterlagen überlassen? Vielleicht finde ich doch etwas, was uns weiterbringt.”
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