„Der Alte schien sich da rausgehalten zu haben, obwohl er die Begabung besitzt, andere so zu manipulieren, dass sie gar nicht merken, dass sie sich geistig wie Marionetten verhalten. Nein, meine Schwester stänkerte und Benjamin spielte mit.”
„Und die anderen?”
„Die hielten sich ebenfalls zurück. Da will es sich doch keiner mit ihm verderben. Ich funktioniere hervorragend als abschreckendes Beispiel dafür, wozu der Alte in der Lage ist, wenn man bei ihm in Ungnade fällt. Noch einen Wein?”
Ich hatte gar nicht registriert, dass ich bereits das zweite Glas geleert hatte, lehnte nun aber dankend ab.
„An dem Abend nun bestand Renate auf einer Aussprache mit ihrem Mann. Er muss sich so geäußert haben, dass er gar nicht wisse, was sie wolle und hat ihr Hysterie vorgeworfen und gefragt, ob sie wohl endlich schwanger sei.”
„Ist sie es denn?”
„Nein. Sie verhütet, seitdem sie sich ihrer Liebe und ihrer Ehe nicht mehr sicher ist.”
„Und weshalb fragt er dann so etwas?”
„Weil Renate ihm verheimlicht hat, dass sie die Pille nimmt. Bis zu diesem Abend. Benjamin rastete aus, ein Wort ergab das andere und … das Resultat kennen Sie ja.”
„Was geschah dann weiter?”
„Benjamin rief etwa eine Stunde später an und fragte, ob Renate bei mir sei. Sie hatte mich aber vorher schon gebeten, ihren Aufenthaltsort nicht zu verraten. Er glaubte mir wohl nicht so ganz, denn er hängte wütend ein. Na ja, inzwischen weiß er, dass Renate bei mir war. Gertrud hat es ihm gesagt.”
Sie zuckte mit der Schulter, als wollte sie sagen, dass ihr das jetzt egal war.
„Renate ging dann zu Bett. Sie schlief lange, auch die nächsten Tage. Es war Ostern, ein Wetter wie in den letzten Tagen. Wir haben gelesen, ferngesehen und gequatscht. Aber nicht über ihre Situation. Sie wollte das nicht mehr. Am Dienstag hat sie dann ihre Mutter angerufen. Aber das wird Ihnen Frau Faber alles schon erzählt haben, nehme ich an.”
Ich nickte. „Und dann war sie am Morgen des 30. März spurlos verschwunden?”
„Ich habe nicht gehört, wann sie das Haus verlassen hat. Ich habe Durchschlafstörungen und nehme Schlaftabletten. Da habe ich noch nicht einmal mitbekommen, wie sie den Wagen aus der Scheune und auf die Straße gefahren hat. Als ich dann am nächsten Morgen, so gegen acht Uhr aufgestanden war, war nichts mehr da von ihr. Kein Kleidungsstück, kein Buch, keine Toilettenutensilien. Es war, als ob sie nie bei mir gewesen sei.”
„Hat sie nicht erwähnt, wo sie hingehen wollte?”
„Nein, obwohl ich sie gefragt hatte. Sie meinte, es wäre besser so, dann könnte ich mich auch nicht verplappern.”
„Und Sie haben keine Idee, keinen noch so vagen Hinweis? Hat sie etwas von Bekannten erzählt, von Kollegen, die sie von der Polizeischule kennt oder von Lehrgängen, Urlaubsbekanntschaften, Schulfreunden?”
„Nein, kein Wort.”
„Hat sie außer mit ihrer Mutter mit anderen telefoniert?”
„Wenn, dann höchstens über ihr Handy. Die ausgehenden Gespräche habe ich schon im Speicher meiner Telefonanlage überprüft. Da ist keines dabei, das sie geführt hat, außer dem mit ihrer Mutter.”
„Was für ein Auto hat sie?”
„Einen dunkelroten Nissan 350 Z, so einen Sportwagen. Das Kennzeichen ist AZ-RF-3636.”
„Haben Sie ihre Handynummer?”
„Natürlich. Ich durfte sie ja nie auf dem Festnetz anrufen. Das wäre aufgefallen.”
„Und haben Sie versucht, Renate zu erreichen, nachdem sie Ihr Haus verlassen hatte?”
„Daran gedacht habe ich schon, aber ich respektiere ihren Wunsch, dass man sie in Ruhe lässt. Wenn sie mich sprechen will, wird sie schon anrufen.”
Ich hatte von Marga Preuß alles erfahren, was sie zu dem Bild, das ich mir machen musste, beitragen konnte. Ich stand auf und bedankte mich für ihre Gastfreundschaft und das offene Gespräch. Sie wollte noch wissen, ob ich jetzt auch zu ihrem Neffen gehen würde. Aber der hatte über Gertrud einen Termin für den nächsten Morgen ausgemacht.
„Wenn Sie wieder einmal durch die Langgasse kommen, Herr Schäfer … Sie wissen ja jetzt wo die Klingel ist. Sie sind immer willkommen, jederzeit. Bringen Sie dann auch einmal Ihre Frau mit, ich würde mich sehr freuen.” Fast flehentlich signalisierte sie, dass sie in dem gewonnenen Kontakt mit mir einen Weg sah, ihrer Einsamkeit zu entfliehen.
Sie begleitete mich zum Tor, wo ich ihr noch versprechen musste, sie umgehend zu informieren, wenn ich etwas von Renate erfahren sollte.
Sonja war im Hof und spielte mit Kira und Siwa. Die 200-Watt-Lampe, die in fünf Metern Höhe an einem Drahtseil leicht im Wind schwankte, spendete das notwendige Licht dazu.
„Na, ist dein Tête-à-tête mit der mysteriösen Marga vorbei?” Sie empfing mich mit einem vielsagenden Blick, gefolgt von einem herzhaften Kuss, den sie allerdings sehr schnell unterbrach. „Puh, du riechst nach Alkohol. Du hattest mir doch gesagt, es ginge nur um ein kurzes Gespräch, und nun rieche ich, dass es sich um ein ausschweifendes Bacchanal gehandelt haben muss. Ich bitte um eine nachvollziehbare und ehrenhafte Erklärung, mein Liebster!”
Während wir ins Haus gingen, erinnerte ich mich an eine ähnliche Szene, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Und heute, wie damals, hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Nur mit dem Unterschied, dass ich vor drei Jahren dieses Gefühl noch nicht – oder besser gesagt nicht mehr – hatte einordnen können.
Ich war gerade auf dem Hoffest eines Weingutes in Flonheim eingetroffen, als eine Dixieband eines meiner Lieblingsstücke – Petit Fleur , von Sidney Bechet – spielte. Ohne genau hinzusehen hatte ich gedankenverloren am Ende eines der langen Tische Platz genommen, als sich neben mir eine angenehme Frauenstimme bemerkbar machte: „Aber gerne”, immer noch hatte ich den Klang ihrer Stimme und ihre fast schon provokative Ironie im Ohr, „nehmen Sie ruhig Platz.” Als ich mich, eine Entschuldigung stammelnd, umdrehte, strahlte mich eine attraktive Rothaarige, Mitte vierzig, frech aus ihren grünen Augen an. Mit einer leichten Neigung ihres Kopfes, einer Geste, die charakteristisch war für sie, vermutete sie, dass ich ohne elterlichen Beistand bestimmt Probleme mit den elementarsten Anstandsregeln hätte. Vor lauter Verzweiflung leerte ich die Weinschorle, die man mir inzwischen gebracht hatte, auf einen Zug, was sie mit der Bemerkung, das sei ja wohl eindeutig Überschreitung der gesetzlich zulässigen Trinkgeschwindigkeit kommentierte. Ja, so lernte ich Sonja kennen, so lernte ich sie nach ein paar Wirrungen einige Monate später lieben und so, genau so, liebte ich sie immer noch, jeden Tag ein bisschen mehr.
Jetzt berichtete ich ihr von dem Besuch bei Gertrud und bat sie gleichzeitig, Dagmar nichts davon zu erzählen. „Überlass das bitte Heribert.”
„Ich weiß zwar nicht weshalb, aber wenn du das willst, werde ich kein Sterbenswörtchen davon verlauten lassen”, versprach sie.
Anschließend erzählte ich ihr von dem Gespräch mit Marga Preuß. „Sie hat eigentlich ein recht sympathisches Wesen. Natürlich ist sie in Bezug auf ihre Familie ziemlich verbittert, aber mir gegenüber war sie sehr offen und freundlich. Sie hat mich, uns sogar eingeladen, einmal vorbeizukommen.”
„Soll das heißen, dass wir mit ihr nun einen auf Freundschaft machen?”, war Sonjas erster Kommentar, nachdem sie mir schweigend zugehört hatte. „Ich möchte nicht in das gleiche Horn tuten wie einige aus meiner Gesangsgruppe, die sich auf alles stürzen, was nicht in ihre kleine Welt passt. Die bezeichnen sie als … durchgeknallt.”
„Wie bitte?! Durchgeknallt? Was soll das denn jetzt?”
„Entschuldige, Darius, das ist ja nicht mein Sprachgebrauch. Frau Preuß ist Opfer vieler Umstände. Ich glaube ja, dass sich alles, was mit Renate zusammenhängt, so abgespielt hat. Erstens ist es identisch mit dem, was Gertrud euch erzählt hat, und zweitens, weshalb sollte sie die Unwahrheit sagen. Dazu ist das, was sie in dieser Sache erlebt hat, einfach zu banal.”
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