Johannes deutete jetzt aufgeregt auf eine Stelle innerhalb des ringförmigen Füntengitters. Es war ursprünglich dafür gedacht, ein kostbares Taufbecken zu schützen. Aber jetzt, was verbarg oder schützte es heute?
Beim Betreten der Kirche hatte ich mich auf die bereits im Kreis stehende Gruppe konzentriert und daher nur einen flüchtigen Blick auf die schwebende Skulptur geworfen. Jetzt im Nachhinein erinnerte ich mich, dass mir dabei auch aufgefallen war, dass darunter etwas Dunkelgraues drapiert lag, das wie ein wellenförmiger Bergrücken aussah.
Was also hatte Johannes enthüllt, indem er die Wolldecke, die jetzt als Knäuel außerhalb des Ringgitters lag, zwischen zwei Stäben hindurchgezogen hatte?
Durch die schmiedeeisernen Stäbe konnte man nun selbst aus der Entfernung etwas erkennen, was in mir blitzartig ein Déjà vu auslöste. Niemals würde ich das Ereignis und das Datum vergessen: Es war der 16. Juli 2002, als ich aus ähnlicher Entfernung ein ebenso unidentifizierbares Bündel auf einem Acker ausgemacht hatte, das sich dann als der zerschmetterte und leblose Körper meines besten Freundes Horst Scheurer herausstellen sollte.
Und obwohl meine Gedanken in dem dramatischen Sog der Erinnerung strudelten, konnte ich doch gleichzeitig beobachten, wie Johannes seinen Vater am Ärmel zog, um dessen Blick, der fasziniert an der über ihm schwebenden Skulptur haftete, auf das Objekt am Boden zu lenken.
Widerwillig folgte er der stummen Aufforderung, stutzte, schüttelte ungläubig den Kopf, wischte sich über die Augen, so, als wollte er einen Albtraum auslöschen, blickte wieder nach oben, dann nach unten, erbleichte auf einen Schlag und trat schließlich einen Schritt zurück. Seine rechte Hand fuhr mit einer fahrigen Bewegung zum Mund, die linke packte Johannes an der Schulter. Er zog den Kleinen, rückwärts taumelnd, in unsere Richtung.
Ich hatte mich aus der erstarrten Gruppe gelöst und war auf ihn zugegangen. Mit irrem Blick starrte er mich an, drehte sich dann aber weiter zu der immer noch sprachlosen und entsetzten Gruppe, deutete auf das Gitter und stammelte „da … da … die ist tatsächlich tot … mausetot” und fügte fast entschuldigend, mit leiser Stimme hinzu, „ich habe so etwas ja noch nie erlebt.”
Wieder einmal, schoss es mir durch den Kopf, wieder einmal war ich früher an einem Tatort, als die Polizei. Ich hoffte nur, dass das nicht zu einer notorischen Bestimmung wurde.
Die Tote lag auf dem Rücken, genau unter Der Schwebende . So stirbt man nicht freiwillig und auch nicht durch einen Unfall, fuhr es mir sofort durch den Sinn. Vor allen Dingen diese Frau nicht, nicht SIE!
24 Wochen vorher, Donnerstag, 7. April 2005
Das Wetter hatte sich endlich gebessert und ich fuhr kurz vor elf Uhr bei strahlendem Sonnenschein, der so gar nicht zu dem Anlass meiner Fahrt passte, zu Gertrud Faber. Am Tag zuvor hatte sie mich in der Kanzlei angerufen und mir von Renates Verschwinden erzählt. Sie hatte sich für mehrere Tage aus ihrer Kanzlei abgemeldet und so besuchte ich sie in ihrem Haus in Neu-Bamberg. Das idyllische Dörfchen lag in einem der schönsten Gebiete der Rheinhessischen Schweiz, etwa zehn Autominuten entfernt von Bernheim Richtung Bad Kreuznach. Mein Weg führte mich vorbei am Galgenberg und dem literarisch vielfach beschriebenen Ajaxturm. Während der Fahrt musste ich an das gestrige Telefonat mit Gertrud denken und hatte daher keinen Blick für die pittoreske Landschaft und die Burgruine, die oberhalb auf einem Hügel das Bild der Ortschaft prägte.
Gertrud Faber hatte mir erzählt, dass ihr Schwiegersohn Benjamin am Ostersonntag, also am 27. März, gegen zehn Uhr bei ihr angerufen und sie gefragt hatte, ob sie eine Ahnung hätte, wo Renate sei. Er war aufgewühlt gewesen und hatte ihr erzählt, dass Renate nach einem kleinen Streit, wie er es nannte, mitten in der Nacht die gemeinsame Wohnung auf dem Weingut verlassen hätte, mit der Mitteilung, nie mehr zurückkommen zu wollen. Gertrud war ratlos.
„Ich habe schon seit einiger Zeit gespürt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, aber ich kam gar nicht mehr an sie heran. Sie hat seit einigen Wochen so ein merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt und den Kontakt mit mir auf das wirklich Notwendigste reduziert. Dabei war unser Beziehung doch früher immer so eng! Naja, wenigstens hat Renate sich zwei Tage später gegen fünfzehn Uhr dann doch bei mir gemeldet und mir mitgeteilt, dass sie bei Marga Preuß, Benjamins Tante, untergekommen sei. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und dass sie einfach ein paar Tage benötige, um sich zu sortieren, wie sie es ausdrückte. Sie würde sichwieder melden. Sie wäre auch mit allem versorgt, was sie brauche – Auto, Kreditkarte und ausreichend Kleidung. Aber als ich dann am nächsten Tag noch einmal versucht habe, sie über ihre Handynummer zu erreichen, nahm sie nicht ab. Ich habe dann bei Marga angerufen, die mir aber auch nicht viel mehr sagen konnte, als dass Renate noch während der Nacht oder am frühen Morgen ohne vorherige Ankündigung das Haus verlassen hätte.”
Seitdem hatte Gertrud nichts mehr von Renate gehört, obwohl sie immer wieder ihre Handynummer wählte. Ihre unbestimmte Befürchtung, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen sein könnte, verstärkte sich von Tag zu Tag.
„Erst zieht sie sich Stück für Stück von mir zurück, dann verlässt sie ihren Lebenskreis und nun lässt sie schon seit zehn Tagen nichts mehr von sich hören! Sie hätte doch wenigstens anrufen oder auf meine Anrufversuche auf ihrem Handy reagieren können. Das passt alles nicht zu ihr. Da stimmt etwas nicht, das spüre ich.” Für einen Moment herrschte Stille, ich hörte sie nur noch atmen.
„Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Was soll ich nur tun, Darius?”
Ich versprach Gertrud, sie am nächsten Tag zu besuchen und meinen Freund, Heribert Koman, Kriminalhauptkommissar bei der Polizeiinspektion Alzey, hinzuzuziehen. Er konnte die Angelegenheit als Kriminalbeamter bedeutend effektiver beleuchten als ich und ihr bestimmt das Richtige raten.
Ich bog in eine Spielstraße im Neubaugebiet von Neu-Bamberg ein, an deren Ende Gertrud seit etwa 12 Jahren in einem Einfamilienhaus wohnte. Heribert war bereits da. Von Weitem sah ich ihn neben seinem Dienstwagen stehen, wo er auf mich wartete. Er reckte das Gesicht der Sonne entgegen und tankte offensichtlich Glückshormone nach dem wochenlangen Regenwetter.
Während ich im vorschriftsmäßigen Schritttempo auf ihn zu fuhr, fiel mir unsere erste Begegnung ein. Es war im Juli 2002 an dem Acker, an dem meine Hunde die Leiche meines Freundes Horst aufgespürt hatten. Ein freundlich aussehender Mann in Zivil, ichschätzte ihn damals auf Ende 40 – heute ist er 51, sechs Jahre jünger als ich – war auf mich zugekommen. Seinerzeit war er noch etwas schlanker gewesen, aber bei seiner Größe von 1,95 Meter fiel das kaum auf. Allerdings hatten sich seine Haare inzwischen meiner Frisur angeglichen. Sie waren weniger, zum Ausgleich jedoch auch grauer geworden.
Der freundliche Eindruck hatte sich sehr schnell verwischt, als er mich ohne eine erklärende Vorbemerkung gefragt hatte, ob ich Horst umgebracht hätte, was nicht gerade dazu hatte beitragen können, die erste Wahrnehmung des Hauptkommissars Heribert Koman wenigstens neutral zu gestalten. Und als er mich auch noch über Horst ausfragen wollte, der nicht nur mein Freund, sondern auch einer meiner Mandanten gewesen war, konterte ich mit einer hochgestochenen Reaktion: Ich verwies auf meine Verpflichtung zur Verschwiegenheit und zitierte aus meiner Berufsordnung. Ich erinnerte mich noch gut an unsere ebenso kurze, wie lächerliche Auseinandersetzung, die sich daran anschloss. Heribert beendete sie mit der Erklärung: „Wollen wir uns hier Paragrafen um die Ohren schlagen oder möglichst schnell den Tod Ihres Freundes klären!? Ihre Schweigepflicht, verehrter Herr Schäfer, interessiert mich dabei nämlich, verzeihen Sie bitte den Ausdruck, einen Scheiß.” Seitdem war er mir sympathisch. Allerdings bedurfte es noch mehrerer verbaler Scharmützel bei einem weiteren Fall bis wir, mit der Unterstützung einiger Flaschen Rheinhessenwein, den Beginn einer wunderbaren Freundschaft à la Rick Blaine und Victor László einläuteten.
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