Gertrud hatte uns bereits durch das Küchenfenster gesehen und öffnete die Haustür, bevor wir klingeln konnten. Sie sah müde und angespannt aus und ihre sonst stets frische Gesichtsfarbe war einer kränklichen Blässe gewichen. Sie musste meinem Blick entnommen haben, dass mich ihr Anblick erschreckt hatte. Als sie uns in das zum rückwärtigen Garten gelegene Wohnzimmer geführt und gebeten hatte, Platz zu nehmen, erklärte sie, dass sie schrecklich aussehen müsse, seit Tagen habe sie kaum geschlafen.
Während sie uns Kaffee einschenkte, der in einer großen Kanne schon bereitstand, beobachtete ich sie. Gertrud war ansonsten eine attraktive, sehr gepflegte Erscheinung. Nicht nur wegen ihrer zierlichen Gestalt – sie war etwa 1 Meter 65 groß – schätzte man sie auf höchstens Anfang 50, sondern auch wegen ihrer blonden, kurz geschnittenen Haare, denen zumindest ich nicht ansehen konnte, ob sie in einer natürlichen Farbe getönt oder einfach noch nicht ergraut waren. Aber heute sah man ihr ihre 58 Lebensjahre an.
Sie hatte die Kaffeekanne abgesetzt und offerierte mit einer einladenden Geste Milch und Zucker.
„Wo kann sie nur sein, Darius? Du kennst Renate doch auch. Das ist einfach nicht ihre Art!” Gertrud sah dabei aber nicht mich an, sondern Heribert, wobei ihre Mimik vom Zweifel zur Verwunderung wechselte. „Sagen Sie, sind Sie etwa der Heribert Koman, bei dem meine Tochter ihr Polizeipraktikum absolviert hat? Na, sie müssen es sein. Es wird ja kaum mehrere Hauptkommissare in Alzey mit demselben Namen geben.”
„Das stimmt, Frau Faber”, er neigte sich ihr leicht zu, „Ihre Tochter Renate war vor sechs Jahren auf meiner Dienststelle. Ich erinnere mich sehr gut an sie.”
Ich traute meinen Ohren nicht. „Weshalb hast du mir denn davon gestern nichts gesagt.”
„Ganz einfach”, grinste er schief. „Hattest du mich über meine Telefondurchwahl erreicht? – Nein, denn dein Anruf wurde auf die Zentrale umgeleitet, weil ich gerade in einer Vernehmung war. Und erinnerst du dich, was der diensthabende Kollege dich fragte?”
„Mhm, er wollte wissen, ob es dringend sei. Und ich sagte, dass es unaufschiebbar sei und ich dich nur ganz kurz etwas fragen müsse.”
„Also hat er dich mit mir verbunden. Du hast gesagt, worum es geht, und ich habe versprochen, heute vorbeizukommen, aber in dieser Situation hatte ich nicht noch Zeit, dir zu erklären, dassRenate mehrere Monate bei mir in der praktischen Ausbildung war.”
„Ein kleiner Hinweis nur …”, nörgelte ich.
„Darius, du solltest wirklich ab und zu meinen Job machen. Willst du gestört werden, wenn du ein Mandantengespräch hast?”
„Rhetorische Frage”, wehrte ich ab.
„Na also.” Er besann sich wieder auf das Wesentliche unseres Besuches. „Entschuldigung, Frau Faber, Herr Schäfer ist manchmal so nervtötend detailversessen. Kann es einfach nicht ertragen, wenn er nicht alles weiß.”
„Ist schon in Ordnung”, Gertrud lächelte zum ersten Mal, „Ich kenne Darius schon länger. Sie dürfen es ihm aber nicht übel nehmen. Das liegt an unserem Beruf.”
Heribert blickte nachdenklich erst sie, dann mich an. „Mhm, vermutlich haben Sie Recht; damit redet er sich auch immer raus. Aber kommen wir zu dem Grund unseres Besuches.”
„Sie haben Recht. Also, das letzte Lebenszeichen meiner Tochter war dieser Anruf bei mir am 29. März. Da sagte sie, sie benötige ein paar Tage, um Abstand zu gewinnen, und sie würde sich bald wieder melden. Außerdem bat sie inständig darum, dass wir ihren Entschluss respektieren und nicht nach ihr suchen sollten. Sie käme schon alleine zurecht.”
„Wen meinen Sie mit ‚wir‘?”
„Mich, ihren Mann und dessen Familie. Sie wohnt ja in Bernheim auf dem Weingut.”
„Und wie steht ihr Mann zu der Sache?”
„Er meint, wir sollen abwarten. Renate würde sich bestimmt bald wieder ‚einkriegen‘. Außerdem will man nicht, dass etwas an die Öffentlichkeit kommt.”
„Man?” fragte ich.
„Ich denke, mit man ist hauptsächlich Johann Preuß gemeint.” Heribert fragte nach den Familienbeziehungen
„Da ist Benjamin, Renates Mann, der Sohn von Günther und Gerlinde Dohne. Gerlinde ist die Tochter von Johann und TheaPreuß. Thea ist vor 28 Jahren mit meinem Mann bei einem Betriebsunfall auf dem Gut umgekommen.” Sie seufzte kurz. „Ist lange her, aber ich vermisse ihn immer noch. Gerade jetzt, in dieser Situation.”
„Johann Preuß”, erklärte ich Heribert, „ist der Patriarch. Er hat das Weingut aufgebaut. Aber viel mehr weiß selbst ich als Dorfbewohner nicht. Die Preußens leben sehr zurückgezogen.”
„Die gesamte Familie Dohne verhält sich so”, seufzte Gertrud erneut. „Oder hat Renate dich auch nur ein einziges Mal in deiner Kanzlei besucht, obwohl sie über zwei Jahre bei dir gearbeitet hat?”
„Nicht, dass ich wüsste.”
„Wer wohnt noch auf dem Weingut?”, fragte Heribert.
Gertrud überlegte kurz und zählte dann auf: „Da ist noch Benjamins älterer Bruder Andreas, verheiratet mit Marlies, einer geborenen Strack. Sie entstammt einer Weinbaufamilie in Eckelsheim. Und dann natürlich Johann Preuß. Obwohl er nach seinem Unfall vor 20 Jahren seiner Tochter Gerlinde den Betrieb übertragen hat, bestimmt er weiterhin das Geschehen auf dem Weingut. Der Mann ist noch topfit und regiert mit seinen 87 Jahren aus dem Rollstuhl heraus die gesamte Familie. Und die reagiert brav und unkritisch, wie auf Knopfdruck.”
„Klingt so, als ob du mit der Wahl deiner Tochter nicht so ganz einverstanden bist.”
„Ach weißt du, Darius, wenn man ein Mandat seit so vielen Jahren betreut, offenbart sich einem einiges. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.”
Heribert hatte sich Notizen gemacht und stellte noch eine Lücke fest.
„Was ist denn mit der zweiten Tochter, dieser Marga, bei der Renate übernachtet hat?”
„Die hat ein eigenes Haus in Bernheim. Mit ihrer Familie hat sie kaum mehr Kontakt. Eigentlich überhaupt nicht.”
„Weshalb nicht?”
„Keine Ahnung, Herr Koman. Dieses Thema ist ebenso tabu, wie die Ursache für Johanns Behinderung. Es wird gemunkelt, dass Marga als Teenager schwanger war und damit nach Ansicht ihres Vaters Schande über die Familie gebracht hat.”
„Leben wir noch im Mittelalter? Ist die Erde etwa doch eine
Scheibe?” Heribert schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Er ist halt ein typischer Patriarch, im 1. Weltkrieg geboren und auf dem Dorf aufgewachsen. Was will man da anderes erwarten? Und alles, was sich ungünstig auf den Namen Preuß und inzwischen auch Dohne auswirken könnte, darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen – nur kein Aufsehen.”
„Das wird dann auch wohl der Grund dafür sein, dass keine Vermisstenanzeige bei uns eingegangen ist”, stellte Heribert fest.
„Johann Preuß hat Dr. Roland Katzenborn konsultiert, den Familienanwalt in Bad Kreuznach. Der bestätigte ihm, was er wohl wissen wollte: Aufgrund der bekannten und belegbaren Tatsachen läge ein freiwilliger und selbstbestimmter Entschluss, kein Verbrechen und offenbar auch keine Gefahr für Renate vor. Außerdem sei sie volljährig. Also müsse man die Polizei nicht informieren und könne nach eigenem Gutdünken verfahren. Er empfahl, eine Detektei einzuschalten, mit der er bereits gute Erfahrungen gemacht hätte. Wie sehen Sie das, Herr Koman?”
„Zu allererst bin ich absolut skeptisch bei Vorschlägen, die von einem Herrn Dr. Roland Katzenborn kommen. Gegen ihn liefen bereits mehrere Ermittlungsverfahren.”
„Was hat der denn gedreht? Ich kenne ihn nämlich auch. Nicht direkt, einige meiner Mandanten beauftragen ihn gelegentlich”, fragte ich dazwischen.
„Darüber darf ich dir keine Auskunft geben.”
„Aber dass gegen ihn Ermittlungsverfahren liefen, darfst du erzählen?”
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