„Ich weiß, Frau Preuß, dass es mich nichts angeht. Aber Sie vertrauen mir freimütig einiges von Ihrem Leben an und das lässt mich natürlich nicht kalt. Ich frage mich allerdings, weshalb Sie noch hier sind, in Bernheim? Weshalb ziehen Sie nicht einfach fort?”
„So, wie Renate, meinen Sie? Ich beneide sie um ihre Entschlusskraft, um ihren Mut, ihr Rückgrat. Ich habe hier mein Haus, das kann ich aber nicht verkaufen. Ich bin zwar die Besitzerin, aber Eigentümer ist der Alte.”
Ich sah sie verdutzt an.
„Ich kann ihn einfach nicht mehr als meinen Vater bezeichnen, verstehen Sie?” Sie zuckte mit den Schultern, setzte dann aber ihre Erklärung wieder fort, ohne eine weitere Reaktion von mir abzuwarten. „Ich habe nichts gelernt und keinen finanziellen Rückhalt, nichts. Ich bin auf die Zuwendungen dieser Menschen angewiesen. Was also sollte ich tun?”
Es folgten einige Sekunden des Schweigens. Sie starrte in ihr Weinglas und brachte die zartgrüne Flüssigkeit darin wie in einem Cognacschwenker zum Kreisen.
„Sprechen wir jetzt über Renate, Frau Preuß?”
„Wir sprechen schon die ganze Zeit über sie.” Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Weshalb meinen Sie wohl, habe ich Ihnen schon so viel über mich erzählt?”
Ich sah sie fragend an.
„Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.”
Ohne auf meine Zustimmung zu warten, erhob sie sich und ging voraus zur Scheune, die wir durchquerten, um durch eine schmale Tür an der Rückseite in den Garten hinauszutreten. Auf einem mit Rindenmulch bedeckten Pfad lotste sie mich zwischen zwei Beeten hindurch, bis wir kurz vor dem Gartenzaun an einem anscheinend wild wachsenden Strauch anlangten. Liebevoll griff sie mit gespreizten Fingern unter eine Knospe.
„Sie wird sich bald öffnen wie die vielen anderen auch. Wunderschöne, leuchtendgelbe Blüten werden sich bald öffnen, die abends einen betörenden Duft ausströmen. Ich weiß nicht, was fürein Gewächs das ist und wo es herkommt. Auf einmal war es da. So, wie Renate.”
Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte und musste sie wohl recht belämmert angesehen haben.
Sie lachte ein eigenartiges Lachen. „Irgendwann einmal dachte ich, der Strauch würde zu groß. Wie nennt man das bei Menschen? Zu selbständig werden? Einem über den Kopf wachsen? Also, was tat ich?”
„Frau Preuß, ich verstehe nicht.”
„Gleich werden Sie es, warten Sie nur ab. Ich nahm also eine Heckenschere und schnitt alles weg, was mir nicht gefiel. Ich stutzte ihn zurecht. Und im nächsten Jahr? Keine Knospen, keine Blüten. Ich habe ihn angefleht, mich entschuldigt, aber es dauerte fünf Jahre, bis er mir den Eingriff verziehen hatte. Und plötzlich, vor zwei Jahren hatte er sich erholt. Verstehen sie jetzt?”
„Nicht so ganz. Ich vermute, Sie vergleichen den Strauch mit Renate?”, fragte ich unsicher.
Sie drehte sich um und ging den Weg zurück zur Scheune voraus. „Richtig. Renate wäre auf dem Weingut zurechtgestutzt worden. Und ob sie dann irgendwann noch einmal aufgeblüht wäre, das möchte ich bezweifeln. Ich glaube, wenn der Strauch den Garten verlassen könnte, er wäre damals auf und davon. So wie Renate.”
Als gälte es, die Worte von Marga Preuß zu untermalen, drang, als wir gerade wieder die Scheune betraten, gedämpft, wie durch Watte, eine Melodie an mein Ohr, die nach wenigen Tönen abbrach. „War das nicht der Anfang des Titelsongs aus Titanic: My heart will go on ?”
„Was meinen Sie?”
„Die Musik eben.”
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts gehört. Vielleicht von nebenan; das kommt schon mal vor, je nachdem, wie der Wind steht und wie laut die Gebhardkinder ihre Musikanlage aufdrehen.”
Inzwischen waren wir wieder an dem Freiplatz angelangt und hatten uns gesetzt.
„Nun, Renate stand am Karsamstag, spät abends bei mir vor der Tür. Sie war völlig aufgelöst, so hatte ich sie noch nie erlebt.”
„Hatten Sie vorher häufiger Kontakt mit ihr?”
„Sie wohnt, besser wohnte, ja seit fünf Jahren auf dem Weingut. Seitdem besuchte sie mich unregelmäßig. So etwa einmal im Monat. Die Familie versuchte, sie davon abzuhalten. Aber Renate hat erklärt, solange man ihr nicht sagen würde, was ich verbrochen hätte, würde sie den Kontakt mit mir pflegen. Ich glaube, sie musste ab und zu aus dem geschlossenen Clansystem des Weingutes ausbrechen. Sie kennen es?”
„Nein.”
„Es ist sehr großräumig. Die haben während der letzten Jahre erweitert. Dadurch, dass es am Ortsrand liegt, war das kein Problem. Der Alte wohnt weiterhin im Hauptgebäude, obwohl es viel zu groß ist – acht Zimmer. Für meine Neffen mit ihren Frauen und meine Schwester mit ihrem Mann gibt es drei große Wohnungen. Da bekommt jeder mit, was der andere tut. Und dann gibt es noch das 2-Zimmer-Appartement in dem Klaus Zerfass wohnt.”
„Klaus Zerfass?”, ich war überrascht, „der Name ist mir neu.”
„Er arbeitet schon seit vielen Jahren auf dem Gut. Er ist Weinchemiker und -technologe. Gehört irgendwie zum lebenden Inventar. Er ist so ein Mädchen für alles, Faktotum nennt man das, glaube ich, obwohl sie ihn eher wie einen Domestiken behandeln, nur weil er … Er kommt auch ab und zu bei mir vorbei und lässt den neuesten Hoftratsch hier. Es interessiert mich zwar nicht, aber bevor er gar nicht mehr kommt, höre ich ihm zu. Er hat sich übrigens auch mit Renate angefreundet, zum Ärger ihres Mannes.”
„Läuft da etwas zwischen den beiden? Das könnte doch auch ein Grund dafür sein, dass sie durcheinander ist.”
„Das kann ich mit absoluter Sicherheit ausschließen.” Wieder einmal huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Klaus hat nichts übrig für Frauen, er ist schwul. Der Alte war ganz schön sauer, alsKlaus sich vor vier Jahren mit den Worten: Ich bin schwul, und das ist gut so , öffentlich geoutet hat. Das Beispiel seines Namensvetters aus Berlin hatte ihm Mut dazu gemacht. Am liebsten hätte der Alte ihn hochkant rausgeworfen, der scheinheilige Moralapostel. Aber er braucht ihn.”
„Lassen Sie uns wieder zurückkommen zum Karsamstag. Was hat Renate erzählt?”
„Nicht viel mehr, als ich bereits wusste. Renate hat ja Ende 2003 ihren Dienst bei der Polizei quittiert und arbeitet seitdem hauptberuflich in der Verwaltung des Gutes mit. Sie ist zuständig für die Buchhaltung.”
„Hauptberuflich?”
„Ja, sie hatte die Buchhaltung schon lange zuvor über die Kanzlei ihrer Mutter betreut. Mit dem Unterschied, dass sie direkt vor Ort einiges an Mängeln entdeckt hat, die sie abgestellt hat. Eigenmächtig, wie man ihr vorwirft. Sie hat mir nur ganz kurz erzählt, dass es sich unter anderem um Steuerhinterziehung bei der Perlweinproduktion handeln würde.”
Ich musste unwillkürlich grinsen, da mir die verlockende Möglichkeit, der sich einige Winzer nicht entziehen konnten, hinlänglich bekannt war.
„Und natürlich wollte Renate diese Mängel auch rückwirkend beseitigen, was den nächsten Stein ins Rollen brachte.”
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Die hätten doch froh sein müssen. Wieso soll man riskieren, dass bei einer Betriebsprüfung Dinge hochkommen, die man rechtzeitig hätte abstellen können. Wenn die einmal den Anfang eines Garnknäuels gefunden haben, wickeln sie den bis zu seinem Ende auf.”
„Sie musste dazu in alte Vorgänge einsteigen, Ordner der letzten Jahre durchforsten und … Fragen stellen. Man hat ihr schließlich vorgeworfen, sie würde nur rumschnüffeln, statt ihre Arbeit zu machen.”
Ich entsann mich, dass Gertrud Faber mir von einigen Äußerungen Renates erzählt hatte, die sich nun konkretisierten. Von Arbeitsbelastung hatte sie gesprochen, von langwierigen Diskussionen wegen Bagatellen.
„Wer warf ihr das vor? Ihr Mann, ihre Schwiegermutter? Oder auch Ihr Vater?”
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