Trotz ihrer beeindruckenden Karriere war Francesca das genaue Gegenteil einer Karrieristin, zumindest, wenn man darunter eine Person versteht, die jede Minute durchplant und jeden menschlichen Kontakt unter einem strategischen Gesichtspunkt betrachtet. Francesca war viel zu individualistisch, als daß sie sich einem, auch unter Frauen, immer verbreiteteren Typus von Managerverhalten angepaßt hätte. Es wäre ihr wie ein Verrat am Leben vorgekommen. Sie war hier wie eine Schriftstellerin, die ihre Einsamkeit braucht, um zu Sinnen und zur Besinnung zu kommen. Francesca hatte stets Zeit für zwanglose Treffen mit Freunden, Nachbarn, Kollegen, Gemeindemitgliedern. »Laß uns einen Cappuccino trinken«, war fast so etwas wie ihr Lebensmotto.
Gewiß, sie reagierte gereizt, wenn man ihr Zeit stahl, sie haßte sinnlos vergeudete – ihr Gehirn hatte dann nichts zu tun oder, schlimmer noch, wurde von unnötiger Verwaltungsarbeit und Bürokratie fremdbestimmt. Da konnte sie wild und fuchtig werden, regelrecht ungerecht, unerträglich – besser, man ging ihr aus dem Wege. Doch sie arbeitete schnell, faßte rasch Entschlüsse und ging konsequent vor. Sie zauderte nicht und hatte eine präzise Auffassungsgabe. Das sparte ihr Zeit, und diese hatte sie dann auch. Für die Weihnachtsferien 2010/11 kündigte sie ein großes Arbeitspensum an, das keinen Aufschub duldete. In der Tat machte sie sich gleich ans Werk, vollführte das aber so schnell, daß sie dann mehrere Tage einfach nur frei hatte.
Bevor ihr Ehemann allzu sehr ins Schwärmen kommt, sei eine vergleichsweise neutrale Stimme wiedergegeben, die Francesca nur einmal, für wenige Tage am Stück, erlebte. Tamara Albertini, Professorin für Philosophie an der Universität Honolulu, lud sie nach Hawaii ein, um dort für eine Woche zu weilen und Vorträge zu halten. Im Sommer 2008 flog Francesca von Cincinnati auf die Pazifikinsel. Trotz des gleichen Namens sind die beiden Damen nicht verwandt. Francesca hatte eines Tages im Internet Tamara entdeckt und über E-Mail Kontakt aufgenommen, wie sie das mit Hunderten von Kollegen oder anderweitig interessanten Menschen zu tun pflegte. Francesca war begeistert von dieser Vulkaninsel, die sie mit einem Leihwagen durchquerte. In einem Kondolenzbrief erzählt Tamara: »Francesca hat einen kolossalen Eindruck auf meine Kollegen und unsere Studenten gemacht. Sie war sehr professionell, zeigte aber anders als deutsche Akademiker keine Arroganz. Ihre römische Seele schien immer durch. Sie konnte sehr technisch sein und zugleich große Flexibilität zeigen. Sie besaß intellektuelle Demut und wußte sich doch zu verteidigen, wenn sie unfair angegriffen wurde. Ich konnte das hautnah erfahren, nachdem sie ein orthodoxer Jude nach einem Vortrag des Verrats am Judentum beschuldigt hatte. Francesca antwortete souverän, daß man das Judentum nicht auf Kriterien der Bronzezeit reduzieren könne.«
Die meisten, die Francesca im öffentlichen Raum erlebten, würden sie als eine Sanguinikerin, eine Optimistin beschreiben. Und sie war es. Sie war eine Italienerin, eine Römerin, eine Frau des Mittelmeerraums, auch dann noch, wenn sie so deutlich deutsch war. Sie konnte lachen, strahlen, mit den Augen funkeln, sie konnte auf die Menschen zugehen, war präsent, direkt, sie konnte schauspielern, theatralisch sein. Ihr Auftreten hatte etwas von Inszenierung, nur daß es authentisch war. Es war ihre Lebendigkeit, ihr Feuer. »Love and compassion appeared to me as the most natural connection to the world«, erklärte sie einmal.
Die Menschen beschrieben Francesca als warmherzig, gesellig, begeisterungsfähig, sympathisch, fröhlich, konzentriert, heiter, engagiert, klug, voller Zukunft, lebendig, quirlig und belegten sie mit Attributen wie Herzensgüte, Menschlichkeit, Liebenswürdigkeit, unbedingter Leidenschaft, Freude; es hieß, sie sei eine »eindrucks- und ausdrucksvolle Person ganz besonderer Art« gewesen; eine religiöse Stimme sprach von »einer von Gottes Wort durchdrungenen und bewegten Frau«. Ein hervorragender Menschenkenner unter den Komponisten beschrieb Francesca, die er nur ein paar Mal kurz erlebte, mit einer »Art Schweben«, als »einen Menschen voller Helligkeit und dabei von freundlichem Dunkel, etwas Ernstes und Heiteres zugleich war um sie …« Das trifft es.
Die positiven Attribute dominieren. Aber sie decken nur eine Seite ab. Francesca konnte immer auch wieder zusammenbrechen, weinen, sich unter der Bettdecke verkriechen. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, das konnte sich rasch abwechseln. Ich habe Jahre erlebt, in denen sie auch deprimiert, ja depressiv war und Tabletten nehmen mußte. Dann strengte sie sich an, daß die Außenwelt davon nichts bemerkte, verlangte doch ihre Ethik den Respekt vor dem Anderen. In diesen Augenblicken war der Schatten ihrer Existenz ganz auf den Partner und die Familie gerichtet. Sie hat immer wieder betont, daß sie im Verhältnis zu mir die Pessimistin sei, und zwar sowohl was die private, ihre ganz persönliche Zukunft anbelangt, als auch die zukünftige Weltentwicklung. Andererseits ging sie wie selbstverständlich davon aus, daß die Menschheit eines Tages andere Planeten bewohnen wird, was ein hohes Maß an Zukunftsoptimismus unterstellt. Francesca, eine Frau voller Sehnsüchte, war extrem widersprüchlich. Das muß man immer im Auge behalten.
Sergio war einer ihrer Lehrer am Gymnasium, ein sehr linker Römer mit großem Vermögen. Er entdeckte Francescas Hochbegabung, war von ihrer sozialkritischen Wachheit fasziniert und wurde ihr väterlicher Freund. (Genaugenommen war er der Lehrer für Maschinenschreiben, ein Fach, das er jedoch nicht beherrschte, was die Schulbehörde freilich ignorierte. So bat er Francesca, die diese Fähigkeit in kurzer Zeit erwarb, informell den Unterricht zu übernehmen, und bezahlte sie dafür aus eigener Tasche, womit diese wiederum, ganz typisch, Bücher kaufte.) Sergio sagte einmal, er habe in seinem ganzen Leben keine Frau kennengelernt, die wie Francesca zugleich so stark und so zerbrechlich sei. Das muß man wörtlich nehmen. Francesca war stark in ihren Ansichten und Handlungen. Aber sie konnte auch zusammenbrechen, und dies ziemlich unerwartet. Dann half nur, wie sie sagte, daß ich sie in den Arm nehme und einfach nur drücke. Francesca konnte eine beispiellose Empathie entwickeln. Als in der letzten Zeit wieder einmal in Israel eine Bombe hochging, schrieb sie sofort allen Freunden und Bekannten vor Ort und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Zugleich war Francesca nicht frei von Wutausbrüchen, auf die schwere Anschuldigungen folgen konnten, und Projektionen, die ihr Umfeld in ungebührlicher Weise belasteten.
Wie erklärt sich dieses Doppelwesen? Sicherlich lag eine bestimmte charakterliche Grundprägung vor. Diese aber wird in der Entwicklung abgeschliffen oder verschärft. Wenn man mit der zartesten Poesie, den erhebendsten Romanen, der hehrsten Philosophie lesend und im Umfeld der weltweit beeindruckendsten Kunstschätze aufwächst, zugleich jedoch mit der politischen und gesellschaftlichen Realität eines durch und durch korrupten Landes, das Italien nun einmal ist, konfrontiert wird, stumpft man ab und läßt es mit der Literatur und den großen Gedanken oder, wie Francesca es tat, entwickelt diese eigentümliche, fast schizophrene Doppelexistenz, die viele an ihr bewunderten. Eine Doppelexistenz führen auch die Juden. Sie sind Teil der Gesellschaft und doch wieder nicht. Sie sind auserwählt, exklusiv, mit hohem universalistischem Impetus und zugleich eine Minderheit, die Haß auf sich zieht. Eine Doppelexistenz führte sie auch als Italienerin, die Deutsche wurde, und als Frau in einer immer noch von Männern dominierten Wissenschaftswelt. Eine Doppelexistenz führte sie als Kind, als sie nicht wie die anderen draußen spielte, sondern sich hinter ihren Büchern fast versteckte. Und natürlich führte sie eine Doppelexistenz als chronisch Kranke unter »Gesunden«. Doppelexistenzen befördern Komplexität, die sich bei Francesca als Vielseitigkeit und extreme Schnelligkeit artikulierte. Und es führt zum »humani nihil a me alienum puto« (»nichts Menschliches ist mir fremd«), wenn man das ganze Auf und Ab des Lebens durchmißt.
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