Gorbatschow dementierte sich selbst. Er hat das Amt des Generalsekretärs verlassen, zur Auflösung des ZK aufgerufen. Offenbar hat sich die alte staatliche Führungsschicht, die zugleich parteiliche Führungsschicht war, auf diese Linie geeinigt.
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Gorbatschow – der »Zusammenhang seiner Gedanken« steht verlassen umher, wie eine abgeräumte Filmkulisse. Es ist, als hätten die Vorstellungen ihr Vorgestelltes verloren. Und doch muss es eigentlich umgekehrt gewesen sein. Die das bedrängte Gemeinwesen zu repräsentieren beanspruchten, sind gescheitert, blamiert. Es ist die Repräsentation, die sich davongemacht hat. Die Repräsentierten sitzen weltweit unvertreten in ihren Nöten, von der großen Not der Menschheit und ihres Lebensraums ganz zu schweigen. Das Perestrojka-Journal ist nun jedenfalls beendet.
Dass jetzt das nationalisierte Russland, bzw. seine führenden Repräsentanten, sich de facto die multinationale Sowjetunion aneignen, wird interessante Entwicklungen nach sich ziehen. Sie zu beobachten ist aber etwas anderes, es ist nicht mehr unmittelbar meine, ›unsere‹, Sache. Diese unsere Sache muss ich nun an anderen Substraten und Subjekten beobachten. Auch wende ich mich wieder verstreuten Mikroanalysen zur hochtechnologischen Produktions- und Lebensweise des transnationalen Kapitalismus zu. Sich mit Niedergehendem zu identifizieren, bei aller Analyse, Voraussicht und Kritik gefühlsmäßig immer wieder spontan ›konservativ‹ im Wortsinn und schier unbelehrbar zu sein – dieser Dauerdruck der letzten Jahre wird nun hoffentlich weichen.
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Die FAZ berichtet von einer Studie der Deutschen Bank über die Sowjetunion: der Bericht schwelgt zunächst in Zahlen über Ausdehnung (60 mal so groß wie Deutschland, allein Russland zweimal so groß wie die USA), um sich dann vor allem den Naturressourcen zuzuwenden. Ein Rohstoffradar von oben. Dieser Blick sieht ein Fünftel der bekannten Goldvorkommen der Erde, 22 Prozent des Erdöls und 34 Prozent des Erdgases, 27 Prozent des Eisens usw. usf. Von den Republiken seien nur sechs so stark, dass sie den Anschluss an die wirtschaftlichen Standards des Westens finden könnten, heißt es euphemistisch, bedeutet im Klartext: dass es sich für den Westen lohnt, sie formell in den Weltmarkt (Westmarkt) zu integrieren und materiell zu subsumieren.
In der TAZ behandelt Klaus-Helge Donath Gorbatschow als Unverbesserlichen, der die sozialistischen Flausen nicht lassen kann. Er schwimmt mit in der momentanen Moskauer Strömung. Einzig Antje Vollmer äußert sich in der gestrigen TAZ im Sinne meiner These von der »Glorious Revolution«: »Die wirkliche Fehleinschätzung – auch des Michail Gorbatschow – in diesen Monaten war die, selbst nicht für möglich gehalten zu haben, wie erfolgreich er schon in der Schwerstarbeit der Aufspaltung der Partei und der Zerrüttung der Reaktion gewesen war. […] Doch den Apparat vorzeitig für besiegt zu halten, wäre grob fahrlässige Scharlatanerie gewesen.« Sie begreift es als »unbestreitbar, dass dieser Putsch in der ersten Etappe der Perestrojka todsicher gesiegt hätte und dass nur das hautdichte Dranbleiben Gorbatschows an diesem Parteiapparat die […] Zerrüttung der gewaltigsten Bürokratie-Maschine bewirkt hat, die die Welt bisher kannte«. G ermöglichte die » gewaltfreie Entmachtung dieses Apparates«. Gleichwohl spricht Antje von »Revolution«.
Ansonsten verstärkt die TAZ (Reinhard Mohr) des Neokonservativen Lepenies genüssliche These vom »Desaster der interpretierenden Klasse«. Residuum des Klassenbegriffs. Zum Erbrechen.
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Einen in der TAZ abgedruckten Vortrag von Wladimir Malachow lesend, wo es um den Simulationismus in Russland geht, fällt mir die momentane jelzinsche Modifikation des russischen Nationalismus auf: er trennt sich vom herkömmlichen durch Anerkennung der Selbständigkeit der andern Republiken. Seine Gegner, die Protagonisten des gescheiterten Staatsstreichs, wären demnach eher im Muster des traditionellen Nationalismus geblieben. »So wie man einerseits ›russisch‹ durch ›sowjetisch‹ ersetzte, wurde andererseits ›sowjetisch‹ durch ›russisch‹ abgelöst.« So durch Stalin oder Jesenin, der kurz und bündig »Rusj« sagte und die multinationale Sowjetunion meinte. Jedenfalls herrscht auf dieser »nationalen« Verschiebungsachse zur Zeit Hochbetrieb, Coup und Gegencoup verkehren im selben Medium.
Malachows Hauptthese: in Russland das Individuum bis heute nicht wirklich anerkannt, daher bleiben alle Institutionen in Wirtschaft, Politik und Recht, die es voraussetzen würden, Simulation. Er zeichnet ein dualistisches Metapherngerüst, das dem nationalistischen Diskurs seine Einheit gibt: organisch/mechanisch, warmes Herz/kalter Intellekt, ungeteilte Gemeinschaft/Individuum; daran schließen Vitalität/Leblosigkeit, Fülle/Leere, Innerlichkeit/Äußerlichkeit, Tiefe/Oberflächlichkeit, Blüte/ Fäulnis. Merkwürdig, hier der Fäulnismetapher wiederzubegegnen. Der »faulende Westen« sei ein russisch-patriotischer Topos seit 150 Jahren.
Marschall Achromejew hat sich heute Nacht erhängt.
Treffende Beschreibungen der Krisenlage im Aufruf des Notstandskomitees. Aber kein Schatten eines Begriffs . Einiges grotesk neben aller Wirklichkeit: »Über die Gesellschaftsordnung soll das Volk entscheiden, dem dieses Recht heute entzogen wird.« Ein Dokument der Verzweiflung. Ich müsste herzlich froh sein – und bin es nur verstandesmäßig –, dass uns dieses Militär- und KGB-Regime erspart geblieben ist.
Was jetzt in Russland läuft, trägt Züge eines Gegenstaatsstreichs, ist aber auch eine Revolution, wie ich sie nie verschlungener und zweideutiger gesehen habe. Falls sie sich nicht positiv beschäftigt, und zwar umgehend, droht die vom Notstandskomitee an die Wand gemalte Hungersnot, begleitet von Racheorgien.
Nun hat sich auch Weißrussland aus der Union verabschiedet. Der wegen des Staatsstreichs ununterzeichnet gebliebene Unionsvertrag wird wegen des Zusammenbruchs des Staatsstreichs für immer ununterzeichnet bleiben, zumindest dieser. Hier hält man eine lose Konföderation für möglich.
Arnold Schölzel kann sich Russland nicht ohne die Ukraine vorstellen. Aber warum sollten sie künftig nicht Handel treiben? Die EG wird ihre Agrarüberschüsse kaum durch ukrainische Agrarimporte vergrößern wollen. Arnolds tiefer Kummer, der an Verzweiflung grenzt, kommt meines Erachtens zu spät, wäre spätestens vor einem Jahrzehnt – andere würden sagen, vor drei Jahrzehnten – überfällig gewesen. Die Ursachengeschichte eilt den Folgengeschichten für gewöhnlich weit voraus.
Mit Katja Maurer einen letzten Artikel für den »Freitag« vereinbart. Aber was gibt es da noch zu sagen? Bislang habe ich immer versuchen können, das Geschehen auf künftige Handlungsmöglichkeiten hin zu untersuchen. Bisher konnte ich immer in einen durch G aufgespannten Horizont mit sozialistischer Perspektive eintreten.
Die Bewegung hatte sich längst verlagert, die Hoffnung, wo sie nicht dumm geworden war, war längst woanders. Wir schrecken zurück vor der nachträglichen Entwertung unermesslicher Anstrengungen.
Was ist zu sagen? Ja, die Dialektik des Staatsstreichs hat, schneller als erwartet, die vorausgesagte Wirkung gezeitigt. Das Kräftegleichgewicht zerstört, damit Gorbatschows Stellung. Mit Antje Vollmer: dass es zur »Glorious Revolution« werden konnte, ist das Werk der Perestrojka, die freilich nicht Umgestaltung des Sozialismus, sondern nur der politischen Institutionen und der geistigen Lage des Landes werden konnte.
Eine antimythische Bilanz zu ziehen . Sonderbar, dass man tief empfinden kann, mitzuverlieren, wo man zuvor wenig erwarten konnte. Dass die Systemkonkurrenz die Dritte Welt freisetzte, dass sowjetische Unterstützung Drittweltrevolutionen die Möglichkeit gab, sich zu behaupten, das alles verlor zunehmend sein Gewicht seit Mitte der siebziger Jahre. Die Standardausrede, äußere Feindschaft habe die Entfaltung gehindert, erscheint nun wie eine Lebenslüge. Im Gegenteil, der Notstandsstaat bedurfte der Ausnahmezustände; ihrer militärischen Logik war er gewachsen. Den zivilen Logiken, aus denen sich Zusammenhalt und Wirtschaftsblüte einer Gesellschaft ergeben, war er nicht gewachsen. Wir können nicht anders, als unseren enttäuschten Hoffnungen nachzuweinen, objektive Möglichkeit aber waren sie schon lange nicht mehr.
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