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In der TAZ vom Mittwoch (21.8.) – wie lange das her ist! – ein interessantes Gespräch mit Boris Groys, der von Willi Winkler als »sowjetischer Philosoph« vorgestellt wird. Groys sah den Staatsstreich siegen, »jede Gegenwehr zum Scheitern verurteilt«, »und das Volk verhält sich weitgehend passiv«. – Diese vom Gang der Ereignisse tags darauf widerlegten Gewissheiten dürfen einen nicht daran hindern, den Gedankengang ernst zu nehmen, dem sie entstammen, auch wenn er nicht sehr klar artikuliert ist. Den Staatsstreich sieht Groys in der Linie des Stalinismus: »Stalin wollte den Marxismus-Leninismus zerstören«, sagt er merkwürdigerweise, »und zum Zarismus des 19. Jahrhunderts zurück – was ihm nicht ganz gelang. Jetzt werden wir es mit einem vollkommenen Stalinismus zu tun haben: einem modernen Staatsapparat, in dem Beamte das Sagen haben.« Nun sei ein antiwestlicher nationaler Militärstaat zu erwarten, ein »Gewaltsystem« anderen Typs: »Der Übergang von der ideologischen Zwangswirtschaft zur ökonomischen wurde noch nicht vollzogen. […] hier im Westen ziehen wir den ökonomischen Zwang vor. Andere, etwa die Menschen in der Sowjetunion, bevorzugen den ideologischen. Es ist in mancher Hinsicht der erhabenere Zwang. Dieser ideologische Zwang bietet nach dem Ende des Kommunismus eine neue Ersatzreligion. Der Staatsgedanke wird zementiert.« – Groys scheint Genuss am Unheil zu finden. Das schärft seine Analysen. Ich erinnere mich gut an sein Auftreten in Dubrovnik, vor bald zwei Jahren. Er schenkte mir seinen Gesprächsband »Die Kunst des Fliehens«.
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Jelzin hat Gorbatschow wie einen zahmen Bären vorgeführt. Dieser Musste das Protokoll einer Geheimsitzung verlesen, bei der mit einer Ausnahme alle Minister entweder für den Staatsstreich waren oder sich opportunistisch heraushielten. Dann unterzeichnete er im Beisein des protestierenden Gorbatschow vor laufenden Kameras ein Dekret, das die Aktivitäten der KPdSU bis auf weiteres verbietet. Das ZK-Gebäude bereits versiegelt.
Ohne rechtsstaatliche oder parlamentarische Prozeduren akquiriert Jelzin Macht per Erlass und übt, gestützt auf Charisma, eine revolutionäre Diktatur aus. Das vom zusammengebrochenen Staatsstreich hinterlassene Vakuum füllte er blitzschnell aus. Gorbatschow, der dies alles möglich gemacht hat, wird wie eine Trophäe im Triumphzug mitgeführt und gedemütigt.
Im gestrigen »Tagesspiegel«, der irrtümlich in meinem Briefkasten gelandet war, entdeckte ich einen Artikel von Uwe Engelbrecht, »Von Russland soll das Heil der Menschheit ausgehen«, aufrechte Wahrheiten zwischen Ironie und Melancholie. Im Ton weniger des Anprangerns als des Staunens, durchmischt mehr mit Angst als mit Spott, berichtet E. von der Genese eines nationalen Mythos. »Vorerst schickt sich Russland an, erst einmal die ganze Union in seinen Griff zu nehmen.«
Prozedur im russischen Parlament: »Es war nicht mehr zu unterscheiden, was Vorschlag, Antrag oder Beschluss war: Schlag auf Schlag wurden zumeist ohne Abstimmung das Gebäude des ZK der KPdSU, sodann ihr Vermögen für beschlagnahmt erklärt« usw. Reihenweise wurden Absetzungen proklamiert (und dabei die örtlichen Parlamente übergangen). Das Klima eine Mischung aus emphatischer Hochstimmung und Niederbrüllen von Differenzen.
Statt des geographisch-neutralen Terms »Rossija« wird immer öfter das altimperiale »Rusj« gebraucht. Engelbrecht schildert das Schüren von Rausch und Selbstberauschung durch die russischen Politiker, etwa den »altbürokratischen« russischen Ministerpräsidenten Silajew, der sich zu der Phrase verstieg: »Russland hat die Welt gerettet.« Jelzins Vize Ruskoj blies den Sieg aufs Format der Überwindung des Nazireichs 1945 auf.
Der redliche Engelbrecht erinnert an die spärliche Befolgung der Aufrufe zu Streik und Demonstration in Moskau, die Disfunktionen des KGB, das Umschwenken der Luftlandedivision aus Tula und vieles andere mehr. Hinzugefügt werden könnte die Information, die ich gestern Abend im Fernsehen aufgeschnappt habe, wonach die Junta das Politbüro um Zustimmung gebeten, aber keine Mehrheit erhalten haben soll, was das Bewusstsein ihrer Anführer von ihrer Parteiloyalität her zersetzt habe.
Ein KGB-Vize soll bei einer Einsatzbesprechung gesagt haben: »Sie haben das Wort Demokratie zu vergessen, Sie haben das Wort Perestrojka zu vergessen – die hatte 1985 begonnen, bis Gorbatschow sie 1987 in eine Konterrevolution überleitete.«
Gorbatschow soll heute die Auflösung der KPdSU verkündet haben. Das russische KP-Verbot macht in den anderen Republiken Schule. Dietmar Wittich befürchtet Kommunisten-Pogrome in den nächsten Tagen. In effigie wurden sie bereits vollzogen: das Fernsehen zeigte, wie irgendwo unter Gegröle Statuen von Marx und Engels mit dem Vorschlaghammer niedergemacht wurden.
Das ND mit meinem Artikel auf S. 2 bringt auf der Titelseite eine Kolumne von André Brie zum selben Thema und auf S. 10 einen längeren Artikel von Heinz Jung (»Der Moskauer Coup, der Gorbatschowismus und die Linke«). Brie stellt »das endgültige Ende« der Ära Gorbatschows fest, den er einen »tragischen Helden« nennt, welcher »der Geschichte genüge tat«, indem er »das unvermeidliche Ende des stalinistischen und nachstalinistischen Staatssozialismus einleitete«. Verteidigung: »Es waren nicht Gorbatschow und die Perestrojka, die zum Zusammenbruch des osteuropäischen Staatssozialismus geführt haben, es war dessen undemokratischer Charakter, seine Unfähigkeit zur Moderne und die mindestens dreißigjährige Verspätung seiner radikalen Reformierung.« Das Neue Denken nötiger denn je, doch in der Realität missachtet; der Westen akzeptiert nur »den Übergang der Sowjetunion in ein westlichimperiales System«. Im Innern klafften Konzeption und reale Politik der Perestrojka immer weiter auseinander, und »die Konzeptionslosigkeit und das Zögern in der Wirtschaftspolitik hat mich bald bedrückt«.
Heinz Jung bereitet »die marxistische Linke« darauf vor, »dass sich der Gorbatschowismus von der bisher praktizierten sozialistischen Rhetorik trennen wird«. Den Staatsstreich schildert er verständnisvoll: »Dem Notstandskomitee kann nicht der Vorwurf gemacht werden, die Lage des Landes nicht realistisch und rücksichtslos erkannt und aufgedeckt zu haben. Der Bankrott der Perestrojka und die drohende Katastrophe sind die ungeschminkte Wahrheit«; der Coup richtete sich »wider den Zerfall der UdSSR und der sozialistischen Strukturen der Sowjetgesellschaft und gegen die Tatenlosigkeit des Staatspräsidenten«. »Eine passive und resignative Mehrheit ist dann kein Faktor der Politik, wenn eine dynamische und aktive Bewegungsminderheit die Straße und die öffentliche Meinung der Zentren beherrscht.« Die »Erfolgsmöglichkeiten für einen Coup dieser Art waren spätestens mit der Wahl Jelzins zum Präsidenten Russlands passé. Dies eröffnete die Phase der Doppelherrschaft der Unions- und Republikorgane«, was zum »Loyalitätskonflikt« in den Repressionsorganen führte. Entscheidend sei, dass es »der Gorbatschow-Richtung nicht gelungen war, eine breite und aktive Massenbewegung als Subjekt der Perestrojka zu schaffen«. Warum nicht, sagt er nicht.
Auch wenn die Perestrojka »nicht die Ursache« für die »Krisenkonstellation der sowjetischen Gesellschaft« war, habe sie als »inadäquate Antwort […] nur die Krise und Widersprüche aus der Latenz entbinden [können], ohne in der Lage zu sein, jene Bewegungsformen zu schaffen, in denen sich die Reform des Sozialismus, der Übergang von autoritären Staatssozialismus zu einem zivilgesellschaftlich und demokratisch geprägten Sozialismus hätte vollziehen können«. Das macht den »Gorbatschowismus« in Jungs Augen zur »Philosophie des Abgangs einer Weltmacht und der Kapitulation«. Das meint das Abgehen der sowjetischen Außenpolitik von der »Leninschen Imperialismustheorie als Grundlage« und die Leugnung der »bestimmenden Rolle der sozialökonomischen Antagonismen, also der Klassenfragen«, kurz, die Anerkennung der Priorität von Menschheitsfragen. Das ist alles nicht rundum falsch, aber halbrichtig, wo rücksichtslos die Fehlkonstruktion des Stalinismus analysiert werden müsste.
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