Die Meinung vieler Menschen des Abendlandes, die Vermarktung und Verwestlichung sei schlecht für Shaolin und für ganz China, zeugen von einer unausgewogenen Sicht auf die Dinge. Es läßt sich leicht von fernöstlichen Idealen reden, wenn man ein abgesichertes westliches Leben führt.
In Japan hatte man die Kampfkünste als Markt im übrigen viel eher entdeckt. Nakayama Masatoshi40 wird oft als Papst des Karate bezeichnet. Diese Bezeichnung ist nicht abwegig. Wer sich in der Welt des Karate auskennt, weiß, daß Nakayama technisch nicht herausragend war. Er berief sich zwar gern auf Meister Funakoshi als seinen Lehrer, doch war er im wesentlichen nur Schüler von dessen Schülern. Allerdings besaß er unbestreitbar organisatorisches Talent. Er baute die JKA41 auf, die heute einen der größten Verbände für Kampfsport darstellt. Nakayama besaß die entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Kontakte, um der JKA schnell einen weltweiten Ruf zu verschaffen, mit Zweigstellen rund um den Globus. Er war einer der ersten »Geschäftsführer« in der Kampfkunstszene. Ihm ist es zuzuschreiben, dass die Kultur des Karate zu einem sehr erfolgreichen Business werden konnte.
Diese Beispiele stehen stellvertretend für nahezu alle Richtungen der Kampfkunst. Einige Kampfstile haben sich jedoch der heutigen Markt- und Profitgesellschaft angepasst und sich trotzdem einen Teil ihrer Kampfstärke und andere Eigenschaften erhalten können. Dies gilt beispielsweise für das Kyokushin-Karate von Oyama Masutatsu42 .
Das Kyokushin-Karate gilt als eine der kampfstärksten heutigen Kampfsportarten. Diese Schule war ein Wegbereiter für das erfolgreiche und profitable K-1-Wettkampfgeschäft.43 Das kyokushin hat sich zwar in eine kommerzielle Sportart gewandelt, aber sich dennoch etwas von seinem alten Wesen bewahren können. Dieses Beispiel zeigt, wie die Kultur des wushu und der Kampfkünste allgemein heute sein könnte und vielleicht sein sollte.
dong quan bu liu qing, liu qing bu dong quan
Zuschlagen ohne Nachsicht (Mitgefühl),
aus Mitgefühl (Nachsicht) nicht zuschlagen.
Die Verkörperung des höchsten Ideals in der chinesischen Wushu -Kultur ist seit frühester Zeit der xiake (俠客). Im alten China war der xiake ein Kämpfer, dessen Handeln durch Edelmut geprägt war.
Ausschnitt eines chinesischen Drucks aus dem 19. Jahrhundert; zu sehen sind 8 der 108 Räuber vom Liangshan-
Die xiake waren zwar meist Einzelgänger, die keinem Herrn folgten, doch wenn es die Umstände geboten, bildeten sie auch Gruppen oder manchmal Armeen aus Individualisten, die sich – wenn auch nur oberflächlich – vom Konfuzianismus zu lösen vermochten. In dem bekannten Roman »Die Räuber vom Liangshan-Moor«44, werden 108 bekannte xiake der Song-Dynastie dargestellt. Sie wurden, ganz ähnlich den Sherwood-Forest-Gefährten Robin Hoods, mehr oder weniger unfreiwillig zu Gesetzlosen und lebten und handelten nur nach den Regeln ihres Gerechtigkeitsempfindens. Und so, wie sich Robins Gesellen im Bogenschießen übten, trainierten auch die chinesischen xiake ihre Kampfkünste. Die Bezeichnung »chinesischer xiake « stellt hier keine Verdopplung dar, sondern verweist darauf, dass es in der Weltgeschichte und -literatur immer wieder Charaktere gegeben hat, die alle Attribute eines echten xiake aufwiesen.
Es gibt eine ganze Reihe Gestalten in fast jedem Kulturraum, die den chinesischen Helden vom Wesen her gleichen, so z. B. die europäischen Ritter. Dies gilt nicht so sehr für die ordinierten milites der geistlichen Kriegerbünde, sondern eher für die weltlichen Kavaliere, die Cervantes mit seinem Don Quijote so herrlich persifliert hat. Fahrende Ritter erfüllen nahezu alle Voraussetzungen für einen xiake , mit dem Unterschied, dass in China auch Frauen zu den xiake gehören konnten. Ihre Ideale wie Würde, Treue, Demut, Zurückhaltung, Beständigkeit und Tapferkeit lassen sich noch heute noch mit dem Wort »ritterlich« zusammenfassen und wären sicher auch von den chinesischen oder japanischen Kriegern akzeptiert worden. Verschiedene Heldenepen erzählen von diesen westlichen xiake. Die Legendensammlung rund um die Ritter der Tafelrunde und zum Teil die Nibelungensage zeigen uns einen stark idealisierten Typus. Reale Entsprechungen sind beispielsweise William Marshal (Guillaume le Maréchal)45 und Bertrand du Guesclin46, die beide im Ruf vollkommener Ritter im besten Sinne standen.
Die japanischen samurai (侍) standen ihrer militärischen Natur nach den Rittern des Westens zwar näher als den Chinesen, doch ihre Lebensführung war von asiatischer Philosophie geprägt. So wundert es nicht, dass der vielleicht bekannteste japanische xiake , Miyamoto Musashi, ein wenig von beiden in sich zu vereinen scheint, Rittergeist und Philosophie.47
Das Wesen der xiake scheint auf den ersten Blick stereotyp. Sie waren starke Helden mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, wobei dieses Empfinden, diese Moral oft nicht mit den Staatsgesetzen vereinbar war. Die Wertvorstellungen folgten archaischen Ansichten von Gut und Böse. Man bezeichnete diese Art von Richtlinie als wude (武德), kriegerische Tugend. Dieser gerade Weg stieß nicht immer auf Verständnis. Während der Historiker Sima Qian (司马迁, ca. 145 - 86 v. Chr.) die Verlässlichkeit und Bescheidenheit der Xiake lobt, sieht der Legalist Han Fei (韓 非, ca. 280 - 233 v. Chr.) in ihnen ein Übel. Als Grund hierfür sah er u. a. ihre Bereitschaft, schnell, manchmal überstürzt, unter allen Umständen für ihre Sache eine Lanze zu brechen. In dem beliebten Sittenroman Jin Ping Mei (金瓶梅) stellt einer der Helden, Wu Song48, diese nahezu blinde Bereitschaft schlagkräftig unter Beweis. Den xiake galt die Gerechtigkeit viel, aber sie liebten auch das Kämpfen, obwohl viele das nur ungern zugaben. Sie gehörten dem wulin (武林) an, der recht losen und freien Gemeinschaft der Kampfkünstler. Alle xiake fühlten sich dieser Gemeinschaft mehr oder weniger verpflichtet. Selbst der größte Einzelgänger beugte sich deren ungeschriebenen Gesetzen.
Viele xiake waren naiv, andere intelligent, doch immer waren sie bestrebt, sich in den gewählten Tugenden zu vervollkommnen. Während der fahrende Ritter als soziales Phänomen in Europa gemeinsam mit dem Mittelalter verschwand bzw. sich in den Typus des Dumas’schen Kavaliers verwandelte, überlebte der xiake als Kämpfertypus in China und Japan aufgrund der Beständigkeit der auf den Konfuzianismus gestützten Kaiserdynastien bis ins 20. Jahrhundert.
Xiake , gleichgültig aus welchem Kulturkreis sie stammten, hatten immer ihre Bewunderer. In China schrieb der berühmte chinesische Dichter der Tang-Dynastie Li Bai (李白, 701 - 762 n. Chr.) ein klangvolles Gedicht über den Charakter und das Wesen eines xiake . Es beginnt mit den folgenden Versen:
Das Lied des Xiake
Drei Becher Wein sind getrunken, und das Versprechen ist gegeben.
Das Versprechen ist stärker als die fünf hohen Berge.
Die große Stärke des Schwertes und des Mutes.
Nachdem die Sache vollendet, bleiben Name und Ruf tief verborgen.
Der Fähige möge ihre Geschichten überliefern.
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