Prinz fühlte eine Erkältung im Anmarsch. Vor dem Reihenhaus zog es wie Hechtsuppe. Und alte Fälle wie dieser interessierten ihn nicht die Bohne, schon gar nicht an einem Freitag, kurz vor dem Wochenende, und noch dazu jwd, janz weit draußen, am Stadtrand. Seinen Mangel an Enthusiasmus musste er aber verbergen. Die beiden Frauen neben ihm sahen ihn schon vorwurfsvoll genug an.
Sigrun und Gudrun Lehmann, die eine Bankerin, die andere Maklerin von Beruf, wie sie ohne Umschweife preisgegeben hatten, als sie sich ihm vorgestellt hatten, wohnten direkt im Haus nebenan und piesackten ihn mit ihren Fragen und Informationen. Wenn er ihr Geschnatter richtig verstanden hatte, waren sie direkt um die Ecke, im Monschauer Weg, aufgewachsen und hielten sich für Expertinnen in allen Kiezbelangen. Hatten diese beiden Schrapnells denn nichts Besseres zu tun? Jetzt quasselten sie schon fünf Minuten unablässig auf ihn ein, und er hatte ihnen nicht wirklich zugehört. Sein Assistent Fellner würde später alles zu Protokoll nehmen, das würde vollkommen ausreichen. Prinz ging sowieso nicht davon aus, dass sie einen Täter finden würden. Dieser Fall war kälter als seine Füße – aber es half ja alles nichts.
Lutz Harnack, Professor der Pathologie und rechtsmedizinischer Leiter des forensischen Teams, das Prinz für diesen Fall zugeteilt war, trat aus dem Haus und kam zu ihm herüber. Harnack schien das schlechte Wetter gar nicht zu bemerken, oder vielleicht trug er auch etwas sehr Warmes unter dem weißen Overall des Kompetenzzentrums Kriminaltechnik des LKA Berlin, kurz KT. Er hatte an diesem Freitag den Dienst eines Kollegen übernommen, der den Hochzeitstag mit seiner Gattin in Paris verbrachte, und würde nun die Untersuchungen des Tatorterkennungsdienstes koordinieren.
»Auf den ersten Blick handelt es sich bei den Skeletten um einen Mann und eine Frau, die Beckenknochen weisen eindeutig darauf hin. Beide waren zum Zeitpunkt des Todes erwachsen, die Handwurzelknochen sind erkennbar zusammengewachsen. Der Mann starb vermutlich an einem Schlag auf den Schädel mit einem stumpfen Gegenstand, zumindest klafft ein großes Loch in seinem Pericranium, und sein Kiefer ist zertrümmert. Ein Ziegelstein oder ein großer Hammer, so etwas in der Art kämen dafür in Frage. Die Frau wurde erwürgt, ihr Zungenbein ist gebrochen, das konnte ich deutlich sehen. Weitere Fremdeinwirkung konnte ich bei einer groben Betrachtung der Knochen zunächst nicht ausmachen. Ich denke, ich werde neben den Kollegen vom Personenerkennungsdienst, die die üblichen DNA-Spuren – falls wir noch welche finden – und die Zahnprofile auswerten werden, noch die 45 zurate ziehen und die Überreste der Textilien genau prüfen lassen. Ich hoffe, dass sie uns Aufschluss über die Herkunft der beiden Toten geben können. Die beiden Skelette werden eine Reihe von Kollegen beschäftigen, das ist bereits abzusehen.«
Die KT 45 war die für Textilkunde zuständige Unterabteilung der Abteilung KT 4 des Landeskriminalamtes. Dort arbeiteten die Naturwissenschaftler unter den Kriminaltechnikern.
Prinz zog einen Flunsch. Was das wieder alles kosten würde!
Harnack hielt Prinz einen der kleinen Folienbeutel entgegen, die die KT zur Beweissicherung verwendete. »Diesen Ring habe ich bei der weiblichen Leiche sicherstellen können.« Erst jetzt schien er die zwei Frauen neben Prinz zu bemerken und räusperte sich mit einem Seitenblick auf die beiden. Harnacks Beruf erforderte eine vielen seiner Mitmenschen unangenehme Faszination für den Tod in all seinen grauenvollen Facetten. Harnack war beseelt von seinem Fachgebiet und ein weltweit gefragter Dozent und Sachverständiger. Den Tod zu entschlüsseln war sein Lebensinhalt, und er schien keinen Kripobeamten darum zu beneiden, sich mit lebendigen Menschen auseinandersetzen zu müssen.
Die beiden Damen neben dem Kriminalhauptkommissar starrten kreidebleich auf das durchsichtige Plastiktütchen, das Harnack Prinz immer noch vor die Nase hielt. Die Frau in Türkis griff die Hand der Frau in Zyklam neben sich und flüsterte entsetzt: »O mein Gott, Siggi, das ist Mamas Ring! Sieh doch nur! Das ist der Ring mit dem Diamantsplitter, den sie als Ehering trug. O Gott, Siggi, das ist Mama da unten im Keller!«
Danach brach das blanke Chaos um Rolf Prinz aus.
*
Während das Drama in und vor dem Reihenhaus in ihrer Zeile im Dürener Weg in den nächsten Akt ging, fror Lea Storm auf ihrer Hunderunde erbärmlich. Dem Winterbeginn in Berlin hatte sie noch nie viel abgewinnen können. Er war ihrem Empfinden nach immer grau, nasskalt und trostlos. Schnee fiel, wenn überhaupt, erst im Januar – dann, wenn man ihn nicht mehr brauchte. Und dem black dog , dem schwarzen Hund, den einem diese Jahreszeit aufzwingen wollte, musste man aktiv entgegentreten. Warum der frühere britische Premierminister Winston Churchill gerade einen Hund als Sinnbild für Depressionen gewählt hatte, hatte Lea nie begriffen. Wenn sie selbst dieses Krankheitsbild mit einem Tier in Verbindung bringen müsste, würde sie eher an einen hässlichen Kraken denken. Viel passender fand Lea aber den Vergleich mit glitschigen dunklen Schlingpflanzen, in denen man sich verhedderte. Und gelang es einem, sich aus diesem Gewächs zu befreien, fand man sich in der Ödnis eines niedergebrannten Ackers wieder, in der man alleine auf weiter, karger Flur stand, ohne Hoffnung auf neues Grün. So fühlten sich Depressionen an. Auf gar keinen Fall rief diese Erkrankung das Bild eines so wunderbaren Tieres wie eines Hundes in ihrer Vorstellung hervor.
Am sonst so grünen südlichen Stadtrand der Hauptstadt zeigte sich die Natur Anfang Dezember von ihrer spärlichen Seite. Kahle Bäume und Büsche säumten die Wege des ehemaligen Grenzstreifens, auf dem Lea in Richtung Teltowkanal geradelt war. Schmuddelige Grau- und Brauntöne dominierten die Umgebung. Die Grünflächen entlang des Mauerwegs wie auch innerhalb der kleinen Reihenhaussiedlung im Eifelviertel, in der Lea wohnte, boten ein von Kälte und Mangel geplagtes Erscheinungsbild. Sie verlangten nach einer Lage Schnee, um unter dieser weißen Decke zu ruhen und sich zu erneuern.
Leas übliche Taktik, Datum und Wetter zu ignorieren und sich warm anzuziehen, um fünf Kilometer am Tag zu laufen, zeigte heute keine Wirkung. Sie litt an einer fiebrigen Erkältung. Ihren großen rotbraunen Schottischen Hirschhund Talisker beeindruckte das wenig. Er musste sich bewegen, über vierhundert Jahre des Jagens in rauem Klima prägten den Charakter seiner Rasse. Und so stand Lea nun neben ihrem Fahrrad am Ufer des Teltowkanals und wartete darauf, dass Talisker aus dem Unterholz zurückkehrte. Ihr Schädel dröhnte, ihre Nase war wund, und ihre Gelenke schienen vor Schmerz zu vibrieren. Sie hatte 39 Grad Fieber, und elend war eine reichlich unzulängliche Beschreibung ihres Zustands. Martin war auch noch nicht wieder von der Kieler Förde zurückgekehrt. Am achten Tag in Folge ohne ihren Freund, den Privatermittler, schrie jede Faser ihres Körpers nach ihm. Vermutlich war diese Gefühlswallung aber bloß auf die Grippe zurückzuführen. Lea wünschte sich sehnlichst zurück in ihr Bett. So schön die Vorstellung von ihrem großen Doppelbett, den warmen Decken und den vielen Kissen auch war, sie rückte in weite Ferne, als Lea ihre Nachbarin Carola Sabersky auf sich zukommen sah.
Carola war mit Horst unterwegs, dem Basset der Familie Sabersky, der seiner Kennung als Niederlaufhund immer mehr Ehre machte, da ihn fünf Mitglieder des sechsköpfigen Haushalts stets mit Leckerlis verwöhnten. Sein Bauch war nur noch wenige Zentimeter vom Boden entfernt, und seine prallen, kleinen Beinchen schienen unter der Last seines Wanstes immer krummer zu werden. Ein jedes Mal, da Lea Horst begegnete, musste sie breit grinsen – der Hund strahlte eine ansteckende Gemütlichkeit aus. Da er Talisker gerade einmal bis zum Kniegelenk reichte, fühlte sie sich immer an Pat und Patachon erinnert, die beiden dänischen Komiker aus den Stummfilmen der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, wenn sie die zwei Hunde zusammen sah.
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